Romantik & Migration

Frederike Middelhoff

Das Projekt erforscht die ästhetische Darstellung und wissensgeschichtliche Dimension von Migrationsprozessen und -erfahrungen in der Romantik. Als Beitrag zu einer wissenspoetologisch orientierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Romantikforschung nimmt die Studie Migration als eine Figur des Wissens in den Blick. Das Projekt beschreibt dabei die Formalisierung, Applikation und Zirkulation eines in diversen Disziplinen emergierenden und wirksam werdenden Wissens über Migration um 1800. Untersucht wird Migration als eine spezifische Form räumlicher Mobilität, die in romantischen Texten für Grenzüberschreitungen, Transformationsvorgänge und Formen der Entgrenzung sorgt. Nicht zuletzt erkundet das Projekt in diesem Zuge auch, welchen Stellenwert Maximen und Strategien des (literarischen) Übersetzens mit Blick auf Migration besitzen,  mithilfe dessen Eigenes und Fremdes, Mutter- und Fremdsprachen, Erfahrungen in der Fremde und mit Fremdheit sowie die Konstruktion von ‚Heimat‘ und ‚Nation‘ verhandelt wird.

Migrations- und Romantikforschung aufeinander zu beziehen und füreinander nutzbar zu machen, erscheint dabei aus mindestens drei Gründen vielversprechend. Erstens ermöglicht der typologisierende Ansatz der historischen Migrationsforschung, die Wanderungsvorgänge in romantischen Texten als Formen der Migration diskutieren und historisch kontextualisieren zu können. Die räumliche Mobilität von Tiecks Sternbald und Eichendorffs Taugenichts steht dann an der Schnittstelle von Ausbildungs- und Gesellenwanderung; Brentanos umtriebiger Protagonist Godwi rückt als Sohn eines nach Deutschland eingewanderten Engländers in den Blick, der seinen Lebensabend wiederum in Italien verbringt; Chamissos Schlemihl präsentiert sich auf seiner Wanderung mal als naturforschender Entdeckungsreisender, mal (wie Chamisso selbst) als Vertriebener. Zweitens kann aus einer mikrologischen Migrationsforschungsperspektive nach den Form-, Figurations- und damit verbundenen Imaginations- und Affektmodellen einer literarischen Repräsentationen von Migration und Migrationsakteur*innen in der romantischen Epoche gefragt werden. Hier sind sowohl Texte von Interesse, die Erfahrungswerte der Emigration aus der Perspektive von Migrantinnen und Migranten autobiographisch bzw. autofiktional rekonstruieren und zu übersetzen versuchen (vgl. z.B. Henrik Steffens) , als auch solche, die die Figuren des Flüchtlings und der Vertriebenen ästhetisieren. Auf diese Weise werden die Texte als Medien lesbar, die bestimmte nationale Klischeebilder und Sehnsuchts(t)räume produzieren und reflektieren. Drittens erlaubt eine wissenspoetologisch ausgerichtete Erweiterung des Textkorpus eine differenzierte und kontextsensible Annäherung an die Konstitution, Distribution und Transformation eines Migrationswissens um 1800. Das Augenmerk richtet sich hier auf die Rhetorik und Ästhetik all derjenigen fiktionalen und faktualen Texte, die sich um 1800 mit den Ursachen, Formen und Auswirkungen von Aus- und (Wieder-)Einwanderungen von (fremden) Menschen sowie mit den (zirkulären) Wanderungen von Tieren, Waren, Substanzen und Krankheiten beschäftigen.

Ziel des Buchprojekts ist eine Literatur- und Wissensgeschichte der Migration in der Romantik, die Re-Lektüren kanonischer Texte vornimmt und gleichzeitig die Erschließung bislang unbekannter Texte und Kontexte ermöglicht. Die Studie soll auf diese Weise die begriffs- und ästhetikgeschichtliche Rekonstruktion eines Migrationswissens um 1800 leisten.