Bericht des V. Kolloquiums des DFG-Netzwerks „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung |Theorien, Methoden, Lektüren“

11.–13. September 2023, Goethe-Universität Frankfurt 

Zukünfte der Romantikforschung: Desiderate, Diskussionen, Beiträge des Netzwerkbandes 

11.09.2023

Von Luisa Banki und Frederike Middelhoff

Das der Frage nach Desideraten aktueller Romantikforschung gewidmete Arbeitstreffen des DFG-Netzwerks wurde von dessen Initiatorin Frederike Middelhoff eröffnet, die in ihrer thematischen Einführung die Kernanliegen des Netzwerkes skizzierte. Sie betonte das metatheoretische Interesse des Netzwerks und resümierte, dass und wie sich das Netzwerk in den letzten Jahren mit der Systematisierung und Relationierung aktueller Methoden und Theorien der Romantikforschung beschäftigt und sich dabei schwerpunktmäßig mit qualitativen, kulturwissenschaftlichen und digitalen Forschungsansätzen auseinandergesetzt hat.

Der erste Vortrag von Jadwiga Kita-Huber (Krakau) zum Thema „Desiderate kulturübergreifender Romantikforschung“ öffnete mit einer Reflexion ihrer eigenen interdisziplinären, internationalen und dezidiert editionsphilologischen Perspektive. Über Lücken und Desiderate innerhalb der gegenwärtigen Konjunktur der Romantikforschung sprach Kita-Huber am Beispiel zweier Projekte: Zunächst stellte sie das Kooperationsprojekt „Schriftstellerinnen aus der Sammlung Varnhagen. Briefe – Werke – Relationen“ vor, das der Erschließung und Analyse umfangreicher, noch weitgehend unveröffentlichter Briefkorpora und Werkmanuskripte deutschsprachiger Schriftstellerinnen um 1800 gewidmet ist. Sie diskutierte Herausforderungen digitaler Editionsarbeiten, werkpolitische Fragen rund um die Gattung Brief und besprach dann ein zentrales Desiderat: Es fehlen kritische Editionen der Texte von Schriftstellerinnen, was wiederum zur Folge hat, dass die Erforschung ihrer Schriften (und auch ihrer Leben, von denen teils sehr wenig gesichert überliefert ist) kaum Dynamik zeigt. Weil die Forschung zu romantischen Autorinnen von verlässlichen Ausgaben ihrer Schriften abhängig ist, schloss Kita-Huber mit einem Plädoyer für (historisch-kritische) Editionen, Studien- und Leseausgaben von literarischen Texten sowie von Briefen, Übersetzungen, Aufsätzen, Rezensionen u.a. bislang ungenügend edierter Autorinnen.

Im zweiten Teil ihres Vortrags stellte Kita-Huber das Projekt „Digital Authoring of the Berlin Collections“ vor, das eine digitale Edition der Sammlung Autographa (ca. 220.000 Objekte, u.a. die Autographensammlung von Joseph Maria von Radowitz) erarbeitet. Am Beispiel der Geschichte der Sammlung Varnhagen sprach sie über Möglichkeiten internationaler Kooperationen und plädierte für kollaborative, national übergreifende Projekte (wie z.B. Europeana) insbesondere bei der Zusammenführung bestehender und künftiger Digitalisierungen unterschiedlicher Bestände.

Der zweite Vortrag von Francesca Fabbri (Weimar) widmete sich „Ottilie von Goethe: Nachlass und Ausstellungen. Über lückenhafte Editionen und Desiderata“. Anhand einer biographischen Skizze und Kontextualisierung diskutierte sie Ottilie von Goethe (geb. von Pogwisch) als ‚Schriftstellerin ohne Werk‘, deren Wirken aus dem Archiv heraus rekonstruiert werden muss. Sie besprach Ottilie von Goethes vielfältige literarische Tätigkeiten – etwa als Herausgeberin der mehrsprachigen Zeitschrift Chaos (1829–1832), in der ausschließlich anonym oder pseudonym publiziert wurde – als Kultur- und Literaturvermittlerin, als Übersetzerin und als Kunstsammlerin. Daran anschließend erläuterte sie die Geschichte des Nachlasses Ottilie von Goethes und betonte, wie fragmentiert die Überlieferung sogar an einem einzigen Ort, dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar ist, weswegen die Geschichte des Nachlasses auch ein Stück Archivgeschichte ist (die etwa in der Katalogisierung und also Ordnung des Nachlasses durch Archivare deren Beurteilung ihrer Bedeutung offenbart). Die belletristische und wissenschaftliche Literatur über Ottilie von Goethe kritisierte Fabbri als bis in die jüngste Zeit durch oft misogyne Charakterisierungen geprägt, die sich, obgleich sie jeglicher Forschungsbasis entbehrten, als enorm wirkmächtig erwiesen und weiterhin erweisen. Vor diesem Hintergrund besprach sie abschließend zwei von ihr kuratierte Ausstellungen zu Ottilie von Goethe, die unter dem Titel „Mut zum Chaos“ 2022 im Goethe- und Schiller-Archiv und 2023 im Romantik-Museum Frankfurt/M. zu sehen waren. Die Ausstellungen arbeiteten auf eine Revision des tradierten misogynen Bildes Ottilie von Goethes hin, indem sie emanzipatorische Aspekte ihres Schaffens in den Vordergrund stellten.

Konsens in der Diskussion mit den Referentinnen sowie im anschließenden Gespräch der Netzwerk-Mitglieder, die an den folgenden zwei Tagen ihre Beiträge für den Band „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung“ zur Diskussion stellten, war die insbesondere für germanistische Zusammenhänge relevante Beobachtung, dass die Zukünfte der Romantikforschung entscheidend von kanonkritischen Ansätzen sowie der Erschließung und Erforschung der Texte der Autorinnen der Romantik bestimmt sein sollten. Die Schriften Ottilie von Goethes, Dorothea Veit-Schlegels, Sophie Mereau-Brentanos u.v.m. können das Verständnis von ‚Romantik‘ konstitutiv erweitern und der Relevanz der Akteurinnen für die romantischen Zirkel in Jena, Heidelberg, Berlin usw. Rechnung tragen. Die Ausstellung „Von Listen und Lücken“, die einen Tag später, am 14.9.2023, im Schopenhauer-Studio in der UB Frankfurt eröffnet wurde (und an der mehrere Netzwerk-Mitglieder beteiligt sind), bestätigte diesen Eindruck. Denn die Ausstellung zeigt, dass selbst eine romantische Autorin, der eine historisch-kritische Ausgabe gewidmet wurde, nicht zuletzt aus verlagspolitischen Gründen, aus dem Kanon ausgeschlossen werden kann: Karoline von Günderrodes Texte (Reclam/Stroemfeld) sind heute vergriffen und werden laut Verlagsauskunft in naher Zukunft nicht mehr neu aufgelegt. Hier möchte das Netzwerk künftig ansetzen und plant dazu, neue Projektziele und Strategien zu erarbeiten und seiner Überzeugung zu folgen, dass die Romantikforschung ohne die Stimmen der romantischen Akteurinnen nicht zukunftsfähig ist.