Bericht des I. Netzwerkkolloquiums

Kolloquium des wissenschaftlichen Netzwerks „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung | Theorien, Methoden, Lektüren“

Am 16. und 17. April 2021 fand das erste der insgesamt sechs für die nächsten drei Jahre geplanten Kolloquien der wissenschaftlichen Netzwerkinitiative „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung | Theorien, Methoden, Lektüren“ statt. Das Treffen wurde aufgrund der Pandemie-Lage digital via Zoom abgehalten und kombinierte zwei Programmformate: Zum einen stellten Netzwerk-Mitglieder ihre aktuellen Projekte und damit verknüpfte Desiderate der aktuellen Romantikforschung vor; zum anderen wurden vorab ausgewählte Primärtexte und Bildmaterialien diskutiert, die der europäischen Romantikforschung (1) gegenwärtig als ‚Begründungstexte‘ oder ‚Schlüsselwerke‘ der Romantiken gelten, (2) die Ambivalenz und Diversität der europäischen Romantik vor Augen führen und (3) die Verbindungslinien und Differenzen der internationalen Romantikrezeption aufzeigen.

Den Auftakt machte Raphael Stübe (Frankfurt), der in seinem Vortrag „Bürgers Lenore (1773) als Impulstext der internationalen Romantik“ der Frage nachging, welchen Stellenwert Bürgers Ballade im Kontext der internationalen Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte um 1800 besaß und welche motivischen und ästhetischen Merkmale die produktive Aufnahme und Weiterentwicklung der Ballade in europäischen Romantikzusammenhängen bedingten. Lenore wurde im sogenannten ‚Lenore-Jahr‘ 1796 gleich mehrfach ins Englische übertragen; in Russland entbrannte ausgehend von der Übersetzung der Ballade ins Russische ein ‚Lenoren-Streit‘ über die Maßgabe des Übersetzens und die Relevanz einer klassizistischen und einer romantischen russischen Literatur. Stübe nahm die Verwendungen und Verwerfungen zu Bürgers Ballade zum Anlass, über die ‚Familienbanden‘ der Romantiken nachzudenken und sie konzeptuell fruchtbar zu machen. Stübe argumentierte, dass die Schauerballade Lenore nicht nur als romantisches Initiationsdokument und als Vorbild der modernen Phantastik und der romantischen Begeisterung für volkstümliche Dichtung gelten kann, sondern vor allem im Hinblick auf die ästhetischen Textverfahren und die metrisch-klangliche Gestaltung die Sprach- und Forminnovation europäischer Romantiken vorwegnahm bzw. überhaupt erst anregte.

In der zweiten Einheit wurden Texte der polnischen Romantik diskutiert, in die Jana-Katharina Mende (Liège) und Jakob Heller (Halle) historisch und systematisch, u.a. auch hinsichtlich der Entwicklung der polnischen Romantikforschung, einführten. In der Diskussion ausgewählter Beiträge von Kazimierz Brodziński („Über Klassik und Romantik sowie vom Geist der polnischen Dichtung“, 1818), Adam Mickiewicz („Über die romantische Dichtung“, 1821; „Die slawische Literatur“, 1844) und Maurycy Mochnacki („Vom Geist und den Quellen der Dichtung in Polen“, 1825) standen die politischen und transzendental-messianischen Dimensionen der polnischen Romantik im Zentrum, die anschließend zu den Grundfragen und Problembereichen anderer Romantiken – insbesondere der deutschen und britischen, die in den Texten explizit referenziert werden– in Bezug gesetzt wurden. Einendes Moment der produktiven Aneignung und Aufarbeitung der Romantik durch Brodziński, Mickiewicz und Mochnacki ist die Solidarisierung mit (und Konstruktion von) einer Romantik, die Sprache, Formen und Motive aus volkstümlichen Traditionen bezieht, das Verhältnis von Kunst und Natur zugunsten einer idealtypischen mimetisch-naturgetreuen Darstellung bestimmt, der Sprache der Empfindung und des Enthusiasmus beipflichtet und einer idealistischen Haltung verpflichtet ist, die das Unendliche in den endlichen Mitteln der poetischen Sprache zu fassen sucht.

Claudia Bamberg (Trier) stellte nach der digitalen Kaffeepause ihr Projekt „Der romantische Shakespeare, digital ediert“ vor. Obwohl in der Romantikforschung mittlerweile ein Bewusstsein für die kollaborative Arbeit an der bis in die Gegenwart maßgeblichen Shakespeare-Übersetzung vorherrscht, die von August Wilhelm Schlegel aufgenommen und u.a. von Ludwig Tieck, Dorothea Tieck, Wolf Heinrich Baudissin fortgesetzt wurde, hält sich mit Blick auf die romantische Shakespeare-Übersetzung nicht nur der Topos eines Männer-Duo-Projekts ‚Schlegel-Tieck‘, vielmehr ist auch immer noch ungeklärt, wer genau an welchen Übersetzungen, mit welchen Handschriften und welchen Übersetzungsstrategien beteiligt war. Bamberg verdeutlichte das Desiderat einer digitalen Übersetzungsedition, in der die verschiedenen Ebenen der kollaborativen Arbeitspraktiken und unterschiedlichen ästhetischen Prinzipien der Übersetzungswerkstatt differenziert sichtbar gemacht werden können. Gleichermaßen aufschlussreich präsentiert sich das Projekt im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Übersetzungstheorie und -praxis. A.W. Schlegel, Novalis und Schleiermacher gelten bis in die Gegenwart als theoretische Vorreiter der modernen Übersetzung, die sich als eigenes Werk begreift und poetische/poetisierende Freiheiten besitzt. Ob Schlegels Ansatz bei seiner Shakespeare-Übersetzung wirklich Anwendung fand, ist bis heute aufgrund mangelnder Erkenntnisse über die Textgenese nicht geklärt. Bambergs Projekt stellt in Aussicht, diese Lücke(n) schließen zu können.

In der letzten Einheit des Vormittags diskutierten die Mitglieder des Netzwerks einzelne Beiträge aus den von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck herausgegebenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, die 1796 anonym erschienen und für das Selbst- und Kunstverständnis der Frühromantik von zentraler Bedeutung sind. Jakob Heller (Halle) und Roya Hauck (Karlsruhe) führten in die Textsammlung ein und referierten die weitläufige Rezeption und Wirksamkeit des Werks für die Idee einer romantischen Kunstreligion (1), für die in der Frühromantik maßgebliche Verzahnung von Malerei und Dichtkunst (2), für ein übergreifend polares Denken von Zeitlichkeit und kunstkritischer Maßgabe inklusive der Frage einer synthetischen Annäherung an diese Pole (3) sowie für die insbesondere nach der Jahrhundertwende zu beobachtende Tendenz zur Erprobung hagiographischer Darstellungsformen (insbesondere Bezug auf Dürer und Raffael nehmend) und für die Malerei der Nazarener (4). Die anschließende Diskussion fokussierte wiederkehrende Aspekte und thematische Auffälligkeiten der ausgewählten Texte, insbesondere die in den Aufsätzen implizit aufgeworfene Frage nach der adäquaten Form und der Gattung des kunstkritischen Sprechens, den ästhetischen Verfahren der Evidentia und einem damit einhergehenden Okularzentrismus sowie die produktive Abgrenzung und Weiterverarbeitung empfindsamer und aufklärerischer Kunst- und Dichtungsideale. [Bericht: Frederike Middelhoff]

In der ersten Sitzung des Nachmittags stellte Alexander Kling (Bonn) sein Projekt „Romantik als Kulisse. Zur Komik der Bühnenbilder“ vor, mit Textbeispielen u.a. von Tieck und Hoffmann. Ausgehend von einem weiten Verständnis des ‚Bühnenbilds‘, das Dimensionen auf und abseits der Bühne einfasst, untersucht Kling die spezifische Komik, die durch eine Vielzahl von möglichen Brechungen der vom Bühnenbild hervorgebrachten Wirklichkeitsillusionen entstehen kann. Solche Illusionsbrüche umfassen auch Unfälle sowie andere nichtintendierte Verweise auf außertheatralische Wirklichkeit(en), aber eben auch Simulationen solcher Brüche, die eine Illusionssteigerung zur Folge haben können. Basierend auf verschiedenen Textformen aus der Romantik, vom Dramentext bis zur Theateranekdote, eröffnete Kling einen Spannungsraum zwischen romantischen Illusionsbrüchen im Theater und der klassizistischen Emphase von Homogenität im Drama und in der Aufführungspraxis und entwarf, mit Rückbezug auf Jean Paul, eine Differenzierung von komischer und ernster Romantik. Die anschließende Diskussion rückte besonders die Rolle und den Status der Dinge in der Romantik in den Vordergrund, hier bezogen auf das Potenzial des Bühnenbildes, außertheatralische Wirklichkeit entweder zu referenzieren oder auf der Bühne zu rekonstruieren. Des Weiteren wurde diskutiert, ob das Romantische hier durch die komischen Illusionsbrüche im Theater neu gerahmt (z.B. als romantische Ironie) bzw. potenziert oder erst durch die Brüche hergestellt wird. In diesem Zusammenhang kam auch die Frage auf, inwieweit die Romantik und ihre Topoi im Theater der Zeit selbst zur Kulisse werden und inwieweit (nicht)intendierte Komik im Theater, auch in Paratexten und in der Rezeption, eine neue Facette romantischer Selbstreflektion herausstellt.

Die folgende, von Sebastian Schönbeck (Bielefeld) moderierte, gemeinsame Textdiskussion konzentrierte sich auf die Romane Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck und Florentin von Dorothea Schlegel. Der Roman Sternbald, der diverse Gattungsformen in sich vereint, gilt als einer der ersten und programmatischsten (Künstler-)Romane der deutschen Frühromantik. Tiecks Werk, das sich direkt aus seinen Überlegungen zu den Herzensergießungen speist, ist allerdings im Gegensatz zum früheren Text, sowie zu Florentin, nicht in seiner Entstehungszeit angesiedelt, sondern zeitlich in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts versetzt. Darüber hinaus verbindet die beiden Romane jedoch eine Vielzahl von inhaltlichen und formalen Aspekten, von der Umformung des Bildungsromantypus und der Anlehnungen an Schauergeschichten, bis zur unklaren Familiengeschichte der Protagonisten und deren Suche nach Formen der idealen Liebe. Die beiden Texte enthalten als typisch romantisch beschriebene Motive, wie die in den Vordergrund gerückte Konstruktion von individueller Identität sowie das Motiv der Reise ohne klares Ziel (die Protagonisten werden auch als Prototypen der romantischen Wanderer angesehen). Zentrale Fragen, die die beiden Romane aufwerfen, betreffen , erstens, die Gender-Wertung der Autor/in und weiblichen Figuren, zweitens, die Verhältnisse von visueller Ästhetik und Literatur sowie von Kunst und Natur (und Kunst und Leben), drittens, die europäische Dimension der Texte, allein schon durch die Handlungsplätze gegeben, sowie die Frage von Mobilität, und viertens, die Individualisierung der Figuren (auch in Hinblick auf die Entstehung eines komplexen Charakters aus der Form des Typus) und ihre experimentellen Lebensformen. Dominante Themen in der Diskussion waren die Verhandlung von Kindheit als romantischem Topos in den Texten, wobei die Kindheiten der Protagonisten etwa durch die ungeklärten Genealogien problematisiert werden; Geselligkeit als Form romantischer Reflexion; formale Gattungen von Kunstkritik; und Herausgeberfiktionen als typisch romantischer Form. Erneut wurde dabei hervorgehoben, dass die Romane, ebenso wie bereits diskutierte Werke, romantische Diskurse nicht nur produzieren, sondern auch reproduzieren und selbstreflexiv brechen, woraus sich die Frage ergibt, ob hier bereits von einer sich von der Frühromantik abgrenzenden „erwachsenen“ Romantik die Rede sein kann.

Auf die gemeinsame Textdiskussion folgte die Projektpräsentation von Alexander J. B. Hampton (Toronto); das Projekt, das Novalis’ philosophische und poetologische Naturbetrachtungen und -darstellungen in den Blick nimmt und unter dem Titel „The Poetics of Nature in Novalis“ firmiert, ist in das Forschungsfeld der Environmental Humantities eingebettet. Ausgehend von Novalis’ Ansicht, dass der Dichter besser in der Lage ist, Natur zu verstehen als der Wissenschaftler oder Naturphilosoph, zeigte Hampton ein dennoch tief in den Philosophien Fichtes und Spinozas verankertes Naturverständnis von Novalis auf, das sich zentral der Frage einer Immanenz und/oder Transzendenz der Naturkräfte annimmt. Hampton führte aus, dass sich Novalis dezidiert gegen eine aufklärerische anti-religiöse Haltung stellt und eine Re-Sakralisierung der Natur fordert. Gleichermaßen sieht Novalis in der Natur einen Dialogpartner, den es sprachlich abzubilden gilt, was jedoch durch inhärente Unzulänglichkeiten in der Sprache final unerreicht bleiben muss. Novalis’ romantische poetologische Position tritt dort am deutlichsten hervor, wo sie die Natur im selbstreflexiven Scheitern der Sprache, die Natur abzubilden, verortet. Die Diskussion des Projektes vertiefte anschließend die philosophischen Traditionen, die zu Novalis’ Naturverständnis beitragen, u.a. der Idealismus von Kant sowie die bis Plotinus zurückreichende neo-Platonische Sicht auf Ich-Natur Beziehungen. Des Weiteren werden Fragen einer partizipatorischen Metaphysik aufgeworfen, die der Natur und den Dingen selbst Formen von Sprache zugesteht, wodurch sich neue Perspektiven auf das poetologische Selbstverständnis von Novalis und seiner Vorstellung von Natur als dialogischem Gegenüber auftun. Es wurde vorgeschlagen, dass diese Ich-Natur Beziehungen durch neue biosemiotische Ansätze weiterverfolgt werden könnten.

Es folgte eine gemeinsame Bilddiskussion von Werken Caspar David Friedrichs, Caroline Barduas, Franz u. Johannes Riepenhausens sowie Marie Ellenrieders, moderiert von Klara Wagner(Göttingen). Ein Schwerpunkt der Diskussion lag dabei auf den verschiedenen Genres, die in der Zeit in der Malerei neu kombiniert werden, etwa die der Historien- und Landschaftsmalerei. Außerdem rückt die Frage, welche Gattungen Malerinnen der Zeit offenstanden bzw. für angemessene Ausdrucksformen gehalten wurden, in den Fokus. In diesem Zusammenhang tritt auch der zeitgenössische Diskurs um das Porträt hervor, sowohl als Form der Kunstproduktion von Frauen als auch ihrer Darstellung; hier wurden am Beispiel Barduas die Darstellungen der Arnim-Töchter und des Wahrheitsanspruches der Darstellung diskutiert. Kunsthistorisch stellt sich vor allem am Beispiel der Brüder Riepenhausen die Frage, wie produktiv es zumindest in der Kunst ist, Klassizismus und Romantik zu unterscheiden, da ihre Werke oft entweder einem romantischen Klassizismus oder einer klassizistischen Romantik zugeordnet werden. In ihren Darstellungen der Kindheit Raphaels rekurriert das oft als typisch romantisch besprochene Motiv des Kindes und des kindlich-idealistischen Blicks auf die Welt. In den Raphael-Darstellungen stellt sich außerdem die Frage nach einer möglichen Verklärung der historischen Tatsachen, soweit diese bekannt sind, sowie nach einer möglichen Hagiographie des Künstlers. Die gemeinsame Besprechung der Bilder kam zudem immer wieder auf den sogenannten „Tetschner Altar“ (1807/08) von Friedrich zurück, u.a. da sonst „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ (1818) oft eine Vormachtstellung in der Friedrichschen Romantik-Ikonografie einnimmt. Im Plenum wurde überlegt, ob die beiden Gemälde zwei unterschiedliche Romantiken bezeichnen oder ob beide zentral die Schlegelsche Idee der Unmöglichkeit der Darstellung des Absoluten in den Blick nehmen, etwa durch die Verletzung bzw. Umarbeitung der zentralen Perspektive.

Die gemeinsame Bilddiskussion ging in ein kurzes Abschlussgespräch des ersten Tages über. Hier wurde vor allem der disziplinäre Umgang mit der Frühromantik hervorgehoben und diskutiert, ob die deutsche Frühromantik in der germanistischen Romantikforschung erst nach 1945 oder bereits um 1900 Modellcharakter für die Romantik gewonnen hat. Die sich historisch wandelnden, auch internationalen Positionen der Romantikforschung zu verschiedenen Konzepten einer Frühromantik wurden als mögliches Zusatz-Thema des kommenden Kolloquiums vorgeschlagen. Als eine zentrale Fragestellung ergibt sich zudem, inwieweit Vielfältigkeit die Romantik ausmacht und wie sich dennoch ihre Grenzen benennen lassen. [Bericht: Paul Hamann-Rose]

Tag 2 (17.04.2021)

Im ersten Slot am Morgen des zweiten Tages stand eine Textsammlung auf dem Programm, die für die Britische Romantik im Speziellen, für die anglophone Romantikforschung im Allgemeinen kanonisch geworden ist: Die Lyrical Ballads von William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge. Anhand ausgewählter Passagen aus dem programmatischen „Preface“ der nach der Erstveröffentlichung 1798 („annus mirabilis“ der Britischen Romantik) wiederholt von den Autoren edierten und redigierten Balladensammlung führten Tim Sommer (Heidelberg) und Paul Hamann-Rose (Frankfurt) in den Kontext der Entstehung und Rezeption der Lyrical Ballads ein. Kernthesen zur romantischen Lyrik, die Wordsworth/Coleridge (Letzterer verfasste vier, Wordsworth neunzehn der Ballanden in der Sammlung) in dieser Vorrede artikulierten, umfassen den poetischen Stellenwert einer Sprache des Gefühls, die universelle Empfindungen (quasi-anthropologisch) nicht nur in einem möglichst alltagssprachlichen Duktus in den Blick nimmt, sondern dem Alltäglichen auch besondere Aufmerksamkeit schenkt und sich in diesem Zusammenhang in Gegenstände genuin menschlicher Stimmungen, Sozialverbünde und/in Natur kontemplativ vertieft. Die auf die Einübung bestimmter Wahrnehmungs- und Reflexionszustände fokussierten poetologischen Theorien der lyrischen (Gefühls-)Produktion („Poetry […] takes its origin from emotion recollected in tranquillity: the emotion is contemplated till by a species of reaction the tranquillity gradually disappears, and an emotion, similar to that which was before the subject of contemplation, is gradually produced, and does itself actually exist in the mind”) brachten die Netzwerk-Mitglieder dann mit ausgewählten Balladen der Sammlung in Verbindung und stellten Bezüge zu und Unterschiede zwischen den in der deutschen und polnischen Romantik maßgeblichen Konzepten romantischer Volksliedpoesie, zur Idyllentradition des frühen 18. Jahrhunderts her. Dass sich Wordsworth und Coleridge zwischen 1798 und 1799 in Deutschland aufhielten (und dort ziemlich armselig frösteln mussten), war nur einer der offensichtlichsten Anknüpfungspunkte der Diskussion mit Blick auf eine kulturelle Synchronizität (Ziolkowski) der deutsch-britischen Romantikbeziehungen [Bericht: Frederike Middelhoff].

Im Anschluss stellte Jana-Katharina Mende (Liège) ihr Projekt zum Thema „Romantische Mehrsprachigkeit: Translinguales poetisches Schreiben in der Romantik” vor, in welcher sie die Frage aufwarf, inwieweit Mehrsprachigkeit als Merkmal der Romantik verstanden werden kann und ob es geographische Knotenpunkte im deutschsprachigen Raum gibt, an denen Mehrsprachigkeit im Zusammenhang mit romantischem Schreiben und Übersetzen praktiziert wird. Dabei thematisierte die anschließende Diskussion auch die Frage, ob zwischen ‚freiwilliger‘ und ‚erzwungener‘ Mehrsprachigkeit, also Mehrsprachigkeit, die beispielsweise in Migrationskontexten entsteht, differenziert werden kann (etwa mit Blick auf das Jiddische) sowie – vor dem Hintergrund des frühromantischen Verständnisses der Übersetzung als verändernde statt als rein grammatische Translation – um die Frage nach der Unübersetzbarkeit literarischer Werke, da eine Übersetzung eine Herauslösung des Werkes aus dessen ursprünglichem kulturellen Kontext und somit dessen Einbettung in den kulturellen Kontext der Zielsprache bedeutet. In diesem Zusammenhang wurde auf Friedrich Schleiermacher verwiesen, der sich in seiner Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813) mit dem Fremden in der Übersetzung befasst und die Strategie des „Einbürgerns“ und „Verfremdens“ als der Translation immanent beschreibt sowie die Möglichkeit aufzeigt, Lesende entweder auf das Fremde hinzuführen oder das Fremde eben in die Welt des Lesenden hineinzurücken.

Daran reihte sich eine von Martina Wernli (Frankfurt/Mainz) vorbereitete Diskussion zu Auszügen aus Rahel Levin Varnhagens Tagebüchern, die unter anderem Einblick geben in deren Selbstwahrnehmung als Frau, Jüdin und Intellektuelle ihrer Zeit. Dabei ging es in der Diskussion vor allem um das Verhältnisvon Gender und Genre, die Komplikationen weiblicher (romantischer) Autorschaft, ihre Sichtbarkeit und (epochenübergreifende) Darstellung. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern die Tagebuchkompilation ein romantisches Projekt ist und welche Gattungen dabei gemischt werden. Betont wurde im Zuge dessen auch Varnhagens Literarisierung und Überschreibung des diarisch-ökonomischen Schreibens ihres Vaters sowie daraus resultierend ihre Selbstinszenierung als Tagebuchautorin.

Klara Wagner (Göttingen) schloss den Vormittag mit ihrer Projektvorstellung zu dem Thema „Romantik/ Ausstellen: Eine Verflechtungsgeschichte der Friedrich-Ausstellungen der 1970er Jahre“ ab, welches angesiedelt an der Schnittstelle der Museum Studies, Kunstgeschichte, Wissensgeschichte und der Romantik. Besprochen wurde dabei neben der Konzeptions- und Visualisierungsphase – und damit einhergehend die sozio- und kulturpolitischen Hintergründe der Ausstellungen – vor allem die dritte Phase der Ausstellungsbiographie, nämlich das Nachleben dieser so genannten Verhandlungsorte von Wissen. Dabei wurde die Frage beleuchtet, ob und weshalb sich die Friedrich-Ausstellungen und der daraus resultierende sogenannte kommerzielle „Friedrich-Boom“ auf die Romantikrezeption auswirkten. Als Beispiel wurde in diesem Zusammenhang unter anderem die erneute Politisierung von Caspar David Friedrichs Werken genannt und damit auch deren Instrumentalisierung als Widerstandstopos im Kontext antiromantischer Tendenzen in der DDR. Verwiesen wurde im Zuge dessen auf die problematische kunsthistorische Romantik-Forschung in Deutschland nach 1945 in Bezug auf Friedrich und seine Werke, auf deren vormalige Stilisierung zum Inbegriff einer “Deutschen Innerlichkeit” im Dritten Reich sowie auf eine darauffolgende humanistische Entpolitisierung und das Verschweigen der nationalistischen Dimension seiner Rezeption.  [Bericht: Nicole Willig]

Der Nachmittag des zweiten Netzwerk-Tages startete mit der letzten Textdiskussion: Der gemeinsame Blick fiel auf einige von Cornelia Ilbrig (Frankfurt) ausgewählte Athenäums-Fragmente(1798‑1800). Das Auswahlkriterium war hier die ‚Griffigkeit‘ der Ausschnitte aus der von den Brüdern Schlegel herausgegebenen, romantischen Programmzeitschrift – und so fanden sich in der Auslese nicht nur das bedeutende 116. Athenäums-Fragment als Dokument einer frühen Romantikkonzeption, sondern auch Fragmente, in denen durch skandalös-provozierende Inhalte ein gesellschaftlicher Angriff zu Tage trat. In der gemeinsamen Diskussion ergaben sich zunächst Bemerkungen in Bezug auf die Re-Lektüre dieses einschlägigen Werkes aus jeweils anderen Blickrichtungen. Die unabdingbare Frage nach dem Begriff des Fragments blieb nicht aus und führte bald zur gemeinschaftlichen Reflektion über das ‚Absolute‘ in der deutschen Romantik sowie in anderen nationalen Kontexten. Die Mitglieder des Netzwerks führten die Hinwendung zum Absoluten in der Romantik auf den aufklärerisch-aufgeklärten Zeitgeist und die sich daraus ergebende metaphysische Leerstelle zurück. Die Diskussion widmete sich weiteren Tendenzen des Zeitalters, die sich aus der Textbesprechung ergaben und so entstand ein Austausch über Geselligkeit und gelebte ‚Sympoesie‘ als Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs durch die Französische Revolution. Auch wurde die Tatsache angedeutet, dass trotz des Geselligkeitsaspekts nicht alles und jeder geduldet wurde, was sich beispielsweise im Antisemitismus der Zeit zeigt. Geschlossen wurde die Runde mit dem Fazit, dass die (deutsche) Romantik zugleich als divers und hochgradig ambivalent zu deuten ist, worauf der Wunsch der Netzwerk-Mitglieder folgte, im weiteren Verlauf des Projekts auch die ‚schmutzige Seite‘ der Romantik genauer zu betrachten.

Im Anschluss trafen sich die jeweiligen Arbeitsgruppen zur geplanten Bibliographie und zur Datenbank, um das weitere Vorgehen in diesen beiden Bereichen zu besprechen. Von einer gesonderten Planungsgruppe für die 2023 anstehende Tagung wurde wegen der ‚zeitlichen Ferne‘ zunächst einmal abgesehen. Eine dritte Arbeitsgruppe beschäftigte sich in der gleichen Zeit mit Ideen für das kommendes Netzwerktreffen im Oktober 2021. Nach den Besprechungen in den Kleingruppen wurden die ersten Ergebnisse (bei den Gruppen zur Bibliographie und zur Datenbank insbesondere bezüglich der Herangehensweise) zusammengetragen. Gemeinsam sprachen die Netzwerk-Mitglieder in der Plenumsdiskussion über die Planungsideen des nächsten Kolloquiums im Herbst. Auch hier wurde noch einmal die Notwendigkeit hervorgehoben, neben den kritisch zu betrachtenden Seiten der Romantik auch ideologisch-kontaminierte Stellen der Romantikforschung in den Blick zu nehmen. Der Austausch betraf neben weiteren Hinweisen auf die ‚neue politische Romantik‘, Anmerkungen und Fragen zu den für das zweite Treffen geplanten Slots mit den geladenen Gästen aus dem Bereich der internationalen Romantikforschung. Die Mitglieder des Netzwerks äußerten außerdem den einstimmigen Wunsch nach mehr close reading-Einheiten, was schließlich als gesonderter Programmpunkt zwischen den Netzwerktreffen ins Auge gefasst wurde. Nach einer kurzen Pause ging die Plenumsdiskussion in eine das Netzwerktreffen abschließende Diskussion über. Spontan wurde über einen Round Table als Diskussionsformat für das nächste Treffen nachgedacht: Bryan Norton (Philadelphia, Berlin) plant einen Slot, in welchem die Nutzung der Romantik unter den Alt-Right diskutiert werden soll. Daran anknüpfen möchte Jana-Katharina Mende (Liège) mit einem Part über den romantischen Messianismus und den polnischen Nationalismus in Zeiten der PiS-Regierung. Zum Abschluss fand ein weiterer Einfall Eingang in die ideenreiche Diskussion: die Edition eines Kompendiums romantischer Schlüsseltexte (als zusätzliches Projekt zur Datenbank), ausgewählt von den Netzwerk-Mitgliedern. [Bericht: Roya Hauck]

Programm des Kolloquiums

Fr., 16.04.2021

09:30    Begrüßung und Allgemeines (Frederike)

09:45    Raphael: „Bürgers Lenore (1773) als Impulstext der internationalen Romantik“

(Forschungsbeitrag)

10:30    Gemeinsame Textdiskussion: Texte der polnischen Romantik (Brodzinski; Mochnacki; Mickiewicz (Moderation: Jana-Katharina und Jakob)

Pause

11:30    Claudia: „Der romantische Shakespeare, digital ediert“ (Projektvorstellung)

12:15    Gemeinsame Textdiskussion: Auszüge aus Tiecks/Wackenroders Herzensergießungen (Moderation: Jakob und Roya)

13:00    Mittagspause

14:00    Alexander (Kling): „Romantik als Kulisse. Zur Komik der Bühnenbilder (Tieck, Hoffmann u.a.)“ (Projektpräsentation)

14:45    Gemeinsame Textdiskussion: Auszüge aus L. Tiecks Sternbald & D. Schlegels Florentin (Moderation: Sebastian)

Pause

15:45    Alexander (Hampton): „The Romantic Ecology of Novalis“ (Projektpräsentation)

16:30    Gemeinsame Bilddiskussion: C.D. Friedrich/Caroline Bardua/Franz u. Johannes Riepenhausen/Marie Ellenrieder (Moderation: Klara)

17:15    Kurze Zusammenführung des heutigen Tages und Ausblick auf morgigen Tag

17:45  Apéro @ Local Bar

Sa., 17.04.2021

09:30    Gemeinsame Textdiskussion: Wordsworths/Coleridges Lyrical Ballads (Moderation: Tim und Paul)

10:15    Jana-Katharina: „Romantische Mehrsprachigkeit: Translinguales poetisches Schreiben in der Romantik“ (Projektvorstellung)

Pause

11:15    Gemeinsame Textdiskussion: Textauszüge v. Rahel Levin Varnhagen (Moderation: Martina)

12:00    Klara: „Romantik/Ausstellen: Eine Verflechtungsgeschichte der Friedrich-Ausstellungen der 1970er Jahre“ (Projektvorstellung)

12:45    Mittagspause

13:45    Gemeinsame Textdiskussion: Ausgewählte Athenäums-Fragmente (Moderation: Conny)

14:30    Kaffee in den Arbeitsgruppen (Bibliographie; Datenbank; Tagung)

14:50    Plenumsdiskussion (Arbeitsgruppen-Ausblicke; Weitere Planungen/Desiderate; Teilen von Netzwerkerfahrungen)

15:30    Pause

15:45    Thesen für „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung“; Planung für 2. Kolloquium; Brainstorming: Merkmale der europäischen Romantik; Weitere Arbeitspakete; Gliederung der Monographie; Sonstiges

16:30    Ende des Kolloquiums