Bericht des II. Kolloquiums des DFG-Netzwerks „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung – Theorien, Methoden, Lektüren“
6./7. Oktober 2021, Goethe-Universität Frankfurt
PROGRAMM
Ein Bericht von Cornelia Ilbrig, Frederike Middelhoff und Rahel Villinger
Zum Auftakt des zweitägigen Kolloquiums führte Frederike Middelhoff (Frankfurt) in das Programm, die Perspektiven und Zielsetzungen des Netzwerktreffens ein. Das DFG-Netzwerk „Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung | Theorien, Methoden, Lektüren“ setzt sich die Differenzierung und kritische Bilanzierung der aktuellen theoretischen Ansätze, methodischen Verfahren und interpretatorischen Zugänge der internationalen Romantikforschung zum Ziel. An diese metatheoretisch angelegte Zielsetzung tasten sich die Mitglieder des Netzwerks mithilfe einer triadischen Heuristik heran, die der Systematisierung und Relationierung der derzeit wichtigsten Zugriffe auf die Romantik dient. Unterschieden wird hier zwischen einer qualitativen, einer kulturwissenschaftlichen und einer quantitativen Romantikforschung. Während erstere nach den spezifischen theoretischen, ästhetischen und/oder konstellationsspezifischen Merkmalen der Romantik bzw. den Qualitäten des Romantischen fragt und auf dieser Grundlage Theorien u.a. einer europäischen, problemgeschichtlichen, postromantischen, rezeptionsgeschichtlichen oder modellbasierten Perspektive auf ‚Romantik‘ entwickelt, interessieren sich kulturwissenschaftliche Annäherungen an die Romantik unter anderem für das Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft bzw. das Verhältnis von Ästhetik und Wissen, für kulturelle und geschlechtsspezifische Praktiken, für die Formen materieller Kultur und für postkoloniale Perspektiven in Bezug auf die historische Romantik. Schließlich haben die Digital Humanities Methoden der Analyse größerer Textkorpora und Datenmengen mithilfe computergestützter Programme vorgelegt, die eine quantitative Romantikforschung befördern und neuartige Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Romantiken, verschiedenen Akteur:innen und Werken zu geben und somit auch neue Interpretationen der Romantik und des Romantischen anzubieten versprechen. Middelhoff betonte, dass diese Einheiten dieser Heuristik als keineswegs trennscharf oder kategorial exklusiv anzusehen sind, kommen doch beispielsweise quantitative Methoden auch in der kulturwissenschaftlichen und qualitativen Romantikforschung zum Einsatz.
Die geplanten Treffen des Netzwerks orientieren sich an dieser Differenzierung und setzen im 2. Treffen entsprechend bei der Frage an, mit welchen Konzepten und Methoden eine Forschung arbeitet, die sich für die Qualitäten der ‚Romantik‘ bzw. der ‚Romantiken‘ interessiert und diese qualitativen Dimensionen, verbindende Elemente des Romantischen sowie ihre diachronen Transformationen zu erschließen und zu differenzieren bemüht ist. Das Interesse gilt dabei nicht zuletzt der Fragestellung, welche Erkenntnispotentiale konflikthistorische, familienähnlichkeitsbasierte und modellorientierte Ansätze für ein Verständnis von ‚Romantik‘ bzw. für die Perspektiven einer europäischen Romantikforschung besitzen. Geladen waren diesem perspektivischen Interesse gemäß drei Referent:innen: Dr. Helmut Hühn (Seminar für Kunst- und Filmwissenschaft, FSU Jena, Forschungsstelle Europäische Romantik); Prof. Dr. em. Christoph Bode (Anglistisches Seminar, LMU München), PD Dr. Sandra Kerschbaumer (FSU Jena, DFG-Graduiertenkolleg ‚Modell Romantik‘).
Helmut Hühn (Jena): Konfliktgeschichte. Überlegungen zu einer Methode historischer Forschung
Vor dem Hintergrund der Auffassung der Moderne als eines dynamischen Spannungsgefüges, in dem Grundkonflikte immer wieder von Neuem ausgehandelt werden müssen, schlug Hühn in seinem Vortrag vor, eine übergreifende makrohistorische Perspektive mit mikrologischen Untersuchungen der einzelnen Werke und Konstellationen zu verbinden. Er plädiert dafür, das Erkennen als Kategorie in seiner Geschichtlichkeit, Sprachlichkeit und Kulturalität zu betrachten und somit Probleme und Konflikte in der Philosophie historisch zu verstehen. Konflikte seien dabei substanzielle Bestandteile der Geschichtsschreibung.
Anschließend an Hühns Vortrag wurden das Verhältnis der vom Vortragenden beschriebenen Problem- und Konfliktgeschichte zur Moderne sowie zur Romantikforschung diskutiert: Durch detaillierte Untersuchungen einzelner Werke sowie Problem- und Konfliktkonfigurationen können, so Hühn, übergreifende Zusammenhänge der europäischen Romantiken neu entdeckt werden. Historisierung kann sich so konkret in den Auseinandersetzungen mit einem vielgestaltigen Epochenbegriff niederschlagen.
Christoph Bode (München): Zum ‚Problem‘ der Vielgestaltigkeit der europäischen Romantiken und wie man es konzeptionell ‚behandelt‘: Familienähnlichkeiten und Fraktale
Hintergrund für Bodes komparatistisches Modell ist die Heterogenität und Widersprüchlichkeit der europäischen Romantiken, die zu einer Unübersichtlichkeit der Phänomene führt, an denen keine Gemeinsamkeiten wahrgenommen werden können. Vielmehr konstruiere die Moderne eine Einheit aus tatsächlich Wahrnehmbaren und dem, was lediglich ‚gewusst‘ wird. Diese Einheit von Wahrgenommenem und Gewusstem behandelt Bode als Kippfigur. Bode schlägt nun vor, bei der Bestimmung der europäischen Romantik nicht nach gemeinsamen Merkmalen zu suchen (die nicht gemeinsam wahrnehmbar sind), sondern nach Familienähnlichkeiten: Jedes (wahrnehmbare) Element sei durch eine Gemeinsamkeit mit dem anderen verbunden. Auf diese Weise entsteht eine netzartige Verbindung der europäischen Romantik miteinander.
Im Anschluss an Bodes Vortrag wurde zunächst darüber gesprochen, ob ein Epochenbegriff der deutschen Romantik über Familienähnlichkeiten konstruiert werden kann, indem ein Werk eines Autors oder einer Autorin (bzw. Elemente des Werks) mit dem eines anderen Autors oder einer anderen Autorin verglichen wird. Zur Sprache kam dann, dass das vorgeschlagene Verfahren auch voraussetzungsreich ist, da auch die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Elementen und die Auswahl der Vergleichsobjekte auf Vorannahmen beruhe. Weiterhin wurde die Übertragbarkeit dieses Modells auch auf andere Epochen diskutiert. Grundsätzlich sei das Modell transferierbar, allerdings handele es sich bei der Romantik um die erste Epoche der Moderne, sodass Kontinuitäten bis heute nachzuverfolgen sind; so kann das Modell auch als Grundlage für eine Theorie der Moderne betrachtet werden.
Sandra Kerschbaumer (Jena): Modelle der Romantik – Modell Romantik
Kerschbaumer diskutierte in ihrem Vortrag die Funktion von auf die Romantik bezogenen Modellbildungsprozessen. Hauptgrund ist die Relevanz der Romantik für die Gegenwart, da sich sowohl liberalistische als auch konservative Ansätze in Kultur, Wissenschaft und Politik auf die Romantik beziehen. Auch das Modell Romantik bedient sich dabei der Kippfigur; modelltheoretische Überlegungen helfen, vergleichbare bzw. wiederkehrende Phänomene zu reflektieren, auf wesentliche Merkmale hin zu befragen und Modellzusammenhänge zu rekonstruieren. Am Beispiel von Novalis‘ „Die Christenheit oder Europa“ zeigte Kerschbaumer, dass in der Romantik Vorstellungen einer Gemeinschaft als eines organischen Ganzen vertreten werden, in die sich das Individuum einordnet, und die bis heute – unter veränderten Bedingungen – angenommen werden. Romantische Texte, die geprägt sind vom Wechselspiel romantischer Sehnsucht nach Einheit einerseits und dem Hervortreten von Individualität und Partikularität andererseits sind wegen ihrer Reichhaltigkeit Grund für verschiedene Modellbildungen.
Im Anschluss wurde mit Blick auf die Modelltheorie nach dem Ursprung, dem Verhältnis zwischen ‚Original‘ und ‚Nachbildung‘ und dem Wahrheitsanspruch von Modellen sowie den Kriterien für ihre Verifizierung gefragt. Entscheidend sei dabei die Reaktion auf und die adäquate Erfassung von Realität(en). Zuletzt wird die Gegenwartsrelevanz des Modells Romantik sowie die Eignung anderer Epochen für Modellbildungen diskutiert. Wie schon beim Modell der Familienähnlichkeiten wurde festgestellt, dass die Romantik grundlegend und modellstiftend für die Moderne war.
Nach den Beiträgen der geladenen Gäste sah das Programm Projektvorstellungen und thematisch orientierte Kurzimpuls-Beiträge sowie die gemeinsame Lektüre zentraler Romantikforschungstexte vor.
Tim Sommer (Heidelberg): Romantik(en): Alte und neue Antworten auf eine literaturgeschichtliche Problemkonstellation (Projektvorstellung)
Ausgangspunkt von Sommers Beitrag ist die Frage: „Was meinen wir, wenn wir von Romantik sprechen?“ Im ersten Teil des Vortrags gab Sommer mit Blick auf bestimmte Schwerpunkte einen Überblick über die Romantikforschung, im zweiten Teil diskutierte er Lovejoys Kritik der Romantik als eines bedeutungsleeren Begriffs. Literaturgeschichte will Lovejoy als Analyse von Elementen und Verbindungen verstanden wissen. In Abgrenzung dazu beschrieb Sommer im dritten Abschnitt seines Beitrags Welleks komparatistischen Ansatz, der die Romantik als Einheit und Kernkategorie der Moderne versteht. Im vierten Teil werden Netzwerk- und Konstellationenforschung als Alternativen zu den Extrempositionen Lovejoys und Welleks vorgestellt. Zum Abschluss diskutierte Sommer die Möglichkeiten der digitalen Literaturwissenschaft für eine quantitative Entwicklung des Epochenbegriffs. In der anschließenden Vortragsdiskussionen wurden die verschiedenen Konzepte gegenübergestellt und verglichen. So macht sich die digital ausgerichtete quantitative Romantikforschung das von Lovejoy vertretene Konzept der Mengenlehre und Worthäufigkeiten zunutze. Zudem zeigt sich, dass man in der Bestimmung des Romantikbegriffs weder mit Welleks Vorstellung von der europäischen Romantik als Einheit weiterkommt, da sie nachweislich nicht richtig ist, noch mit einem rein quantitativen Begriff von Romantik, weil er oberflächlich und trivial bleibt.
Fluchtpunkt der Diskussion (und des gesamten Kolloquiums) ist die Frage nach einer qualitativen Romantikforschung, wofür die am Vormittag vorgestellten Methoden und Modelle (Konfliktgeschichte, Familienähnlichkeiten, Modell Romantik) immer wieder Bezugspunkte darstellen.
Letzter Programmpunkt für den ersten Tag des Kolloquiums war die Diskussion von ausgewählten Schlüsseltexten der Romantikforschung:
- R. Huch: Apollo und Dionysos (In: Romantik I, Blüthezeit der Romantik, 1899)
- G. Lukács: Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur
- M.H. Abrams: The mirror and the lamp
Im Fokus der Diskussion von Ricarda Huchs Text stand zunächst die Polarisierung von Bewusstem und Unbewusstem, die Huch als besonderes Kennzeichen der Romantik betont. Dabei bezieht sie sich offensichtlich, wie auch der Titel des Aufsatzes „Apollo und Dionysos“ nahelegt, auf F. Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (1872). In der Diskussion zeigte sich, dass Romantik für Huch ein ‚nordisches‘ Phänomen ist. Südländische Romantiken blendet Huch ebenso aus wie interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Stattdessen verfolgt sie starke nationalphilologische und – vor der Etablierung durch S. Freud – psychoanalytische Interessen. Huchs Anliegen ist die Vereinigung der Pole ‚bewusst – unbewusst‘ (apollinisch – dionysisch), woran die Romantik nach ihrer Darstellung allerdings scheitert.
In der Diskussion von Georg Lukács Aufsatz „Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur“ (1945) wurde zunächst einhellig eine starke Ideologisierung der Literaturgeschichtsschreibung durch den ungarischen Philosophen festgestellt, die weder an Fakten noch am Material Interesse zeigt und stattdessen den Autoren (unter Ausschluss der Autorinnen) und ihren Werken einen Platz anweist. Dabei akzentuiert Lukács den Bruch zwischen Aufklärung und Romantik besonders stark und reiht die Romantiker undifferenziert in die Gruppe der Reaktionäre gegen die Französische Revolution ein. Verständlich wird diese schablonenartige Ideologisierung vor dem Hintergrund der Vereinnahmung der Romantik durch die Nationalsozialisten, gegen die sich Lukács stark abzugrenzen sucht.
M.H. Abrams Aufsatz „The Mirror and die Lamp” wird in der Diskussion einstimmig „Wohlfühlcharakter“ bescheinigt: Die Auswahl von Beispielen sei recht eindimensional, im Zentrum stehe ausschließlich die britische Romantik, ein offensichtlich riesiger Wissensfundus steht einer unterkomplexen Behandlung der Texte entgegen. Diese werden als Beweise für ein Romantikverständnis herangezogen, das Expressivität (‚overflow‘) in den Mittelpunkt rückt; der Fokus liegt dabei auf der ‚Lampe‘ und dem ‚Licht‘ und dem damit verbundenen frühromantischen Theorem vom Perspektiv. Der Spiegel findet dabei wenig Berücksichtigung. Ein solcher Zirkelschluss (es wird bewiesen, was zu beweisen war) kann, so die Feststellung zum Abschluss der Diskussion, nur durch die dekonstruktivistische Methode aufgebrochen werden, die uns dazu zwingt, uns auf die Texte selbst als Texte (ohne Vorannahmen) einzulassen und so einer qualitativen Romantikforschung näher zu kommen.
[Bericht: Cornelia Ilbrig]
Tag 2 (7.10.2021)
Den Auftakt am Morgen machte Jakob Heller (Halle-Wittenberg) mit einer Vorstellung seines aktuellen Projekts „Konfessionalität in der romantischen Poetik“. Heller adressierte eine enger gefasste Fragestellung – nach romantischen Poetologien und Ästhetiken konfessionell katholischer Prägung – sowie auch eine weiter gefasste Frage, nämlich ob romantische Poetologie und Ästhetik als solche (tendenziell) katholisch geprägt seien. Ausgangspunkt des Vortrags bzw. des Projekts ist das Faszinosum Katholizismus in der Romantik. Warum beziehen sich so viele Romantiker:innen emphatisch auf den Katholizismus, der doch im Zeitalter der Aufklärung als rückständig galt? Wie Heller argumentierte, sind die bisherigen Antworten der Romantikforschung auf diese Frage unzureichend. Generell ließen sich in der Forschung zwei Haupttendenzen ausmachen: (1.) Erstens werde in sozialgeschichtlich-kulturpolitischen Interpretationen Katholizismus zur Metonymie für Restauration (typisches Beispiel hierfür ist F. Schlegels spätromantische Wandlung). (2.) Zweitens würde die romantische Idee einer Kunstreligion (wie beispielsweise in den von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck herausgegebenen Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders)und die damit verbundene Aufwertung der Sinnlichkeit gegenüber dem Verstand als ausreichende ‚Erklärung‘ für das Faszinosum Katholizismus herangezogen. Hellers Kritik an beiden Positionen lautete, dass katholische Konzeptionen des Darstellens und Verstehens in der Forschung bisher keine Rolle spielen – obwohl sich diese, wie Heller argumentierte, in kunsttheoretischen und poetologischen Thesen der Romantik, insbesondere zur poiesis (ästhetischer Produktion und Darstellung) und zur Hermeneutik (Textverstehen) widerspiegelten. So zeigten sich zentrale hermeneutische, kunsttheoretische und poetologische Implikationen theologischen Wissens, insbesondere des Sakraments und der Figura, an theoretischen Kerntexten der Romantik.
In der zweiten Einheit am Vormittag stellte Roya Hauck (Karlsruhe) ihr Projekt „An ‚unsichtbaren Fäden’. Manipulationsstrukturen in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla (1821)“ vor. Hauck adressierte einleitend im Hinblick auf das übergreifende Thema des 2. Netzwerkkolloquiums auch gleich die weiterführende Frage: Was an den in Hoffmanns Brambilla anzutreffenden Manipulationsstrukturen ist typisch romantisch? Von lat. manus (Hand) findet sich „Manipulation“ in gängigen Nachschlagewerken der Zeit als zunächst chemischer Fachterminus französischer Herkunft; im Deutschen wurden darunter vor allem der Magnetismus/magnetische Manipulationen bzw. mesmerische Heilpraktiken subsumiert. In Schriften der Illuminaten fällt der Begriff dann im Sinne einer Praktik zur ‚Menschenregierung‘. Wie Hauck anhand einer Reihe von Textbeispielen argumentierte, ist Manipulation bei Hoffman nicht nur inhaltlicher Gegenstand (so führt beispielsweise die magnetische Manipulation zur Persönlichkeitsspaltung der Figuren), sondern auch narratologische Struktur. In der anschließenden Diskussion konnte dies dahingehend ergänzt werden, dass die Texte derart auch auf eine Manipulation der Leser:innen zielen. Diskutiert wurden weiterhin der Zusammenhang bzw. die Differenz von Automatismus und Manipulation bei Hoffmann, seine Vorwegnahme von Freuds Thesen über das Unheimliche, die enge Verbindung zur zeitgenössischen Theorie des Komischen sowie die Frage nach einem starken realistischen Zug Hoffmanns, der sich im Kleid der Fantastik – als Reflexion des ‚Mechanistischen‘ im aufkommenden industriellen Zeitalter sowie der puppenhaft starren gesellschaftlichen Konventionen – gerade am Motiv der Manipulation zeige.
Unter dem Titel „Giftschrank der Romantikforschung“ widmete sich die dritte Sektion am Vormittag einer Roundtable-Diskussion zu Transformationen und Aktualisierungen problematischer Rezeptionsgeschichten der Romantik, insbesondere mit Blick auf die Geschichte ihrer politischen Vereinnahmungen von 1800 bis zur Gegenwart. Ziel der Sektion war, im Rahmen von 5 kurzen Impulsvorträgen und einer anschließenden Debatte im Plenum erste Annährungen daran zu sammeln und zu ordnen, was aus der Perspektive der Gegenwart zu diesem brisanten Thema gehört (und was nicht), was zentrale Fragestellungen sind/wären und welche wissenschaftlichen Umgangsformen mit dem „Giftschrank“, d.h. den historisch oft sehr wirkmächtigen, aber nicht unproblematischen Seiten der Romantik zu wählen seien. Und noch grundlegender: Woher rührt überhaupt die Tendenz der Romantik, mehr als andere literarische und künstlerische Epochen zu politischen Vereinnahmungen zu verführen bzw. sich durchaus dafür zu eignen?
Den ersten Impulsvortrag machte Roya Hauck (Karlsruhe) zu Carl Schmitt. Sie nahm dabei Bezug auf eine vorab unter den Teilnehmer:innen zirkulierte Textgrundlage, C. Schmitts „Politische Theorie und Romantik“ (1921) und C. Schmitt, „Der Führer schützt das Recht“ (Deutsche Juristen-Zeitung 1.8.1934). Schmitts wirkmächtiger Aufsatz von 1921 folgt Hegels Darstellung der Romantik als schlecht subjektivistisch. Seiner Deutung zufolge ist Romantik tendenziell antiintellektualistisch sowie (u.a. als Folge davon) politisch passiv und unfähig. Unfähig nicht nur zur Entwicklung einer tragfähigen Staatstheorie, einer rational begründeten Theorie politischer Legitimität, sondern auch durchaus praktisch unfähig: Schmitts Grundargument lautet letztlich, dass Politik stets Entscheidungen verlange – sowohl die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht als auch konkrete alltagpolitische Entscheidungen – und Romantik in ihrem ironischen Oszillieren, ihrem permanenten Schweben zwischen gegensätzlichen Polen oder Positionen zur Entscheidung prinzipiell nicht fähig sei. Da sie sich nicht an objektiven Tatbeständen, Realitäten oder Gründen orientiere, sondern für sie nur gälte, was der individuelle Rezipient (Leser, Autor usw.), willkürlich mit/aus Objektivitäten mache, diene sie politisch daher jeweils „der nächsten und stärksten Idee“ (z.B. einmal der Revolution, einmal der Restauration)- Angemerkt wurde in der Diskussion, dass Schmitts Artikel von 1934, in dem versucht wird, Hitlers totalitäre Politik zu legitimieren, letztlich genau das tut, was Schmitt selbst 1921 der Romantik vorwirft: sich argumentativ in den „Dienst der nächsten und stärksten Idee“ zu stellen. Zu dieser Ironie der Schmittsch’en Romantikdeutung passt, dass Schmitt als politischer Autor heute auch von links vereinnahmt wird.
Den zweiten Impulsvortrag machte Bryan Norton (Philadelphia/Berlin) zu C. Schmitt/B. Latour. Auch hier gab es eine Textgrundlage, Auszüge aus dem 7. Kapitel von Latours Gaia-Vorlesungen Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climatic Regime (2017) [frz. Original 2015]. Unter dem Titel „Auch Latour in den Giftschrank? Gedanken zum neuen Nomos der Erde“ adressierte Norton die Frage, wie Latours emphatisch-positive Aufnahme von C. Schmitts Aufsatz „Der Nomos der Erde“ in der 7. Vorlesung zu bewerten sei. Während bei Schmitt/Latour die Erde Gesetzgeberin sei, gäbe es, so Norton, in der Romantik ein alternatives, von Schmitt/Latour völlig vernachlässigtes Nomos-Konzept (u.a. in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen den antiken orhtios nomos nach Herodot und Aristophanes, in dem die Tiere den Sänger retten und Menschen allein nicht regierungsfähig sind). Ergänzt wurde in der Diskussion, dass sich Schmitts Gaia-Konzept allerdings nicht mit Schmitts Nomos-Konzept decke. Auch wurde kommentiert, dass sich an der hier aufgeworfenen Frage-Konstellation erneut sehr schön zeige, wie gegensätzlich die Vereinnahmungen der Romantik oft seien – selbst dann, wenn sie unter demselben Blickpunkt, wie hier z.B. ausgehend von klimakritischen und ökologisch perspektivierten Problemkonstellationen, aufgenommen werde. Während Latour Romantik für eine neue Kosmologie, ein Denken der Erde, stark mache – quasi als Modell oder Quelle eines alternativen, ökologisch positiv zu bewertenden Natur-Denkens – werde im aktuellen ökologiekritischen Kontext anderorts gerade die Romantik für ihr proto-kapitalistisches, konsumorientiertes Naturkonzept kritisiert (so z.B. bei T. Morton).
Jana-Katharina Mende (Liège/Halle-Wittenberg) referierte im dritten Impulsvortrag zum Thema Romantischer Messianismus und polnischer Nationalismus nach 1989. Bis heute hält sich in Polen ein staatlich-klerikaler Messianismus, der sich einer Vereinnahmung der Romantik bedient. Daraus entwickelte sich das Bild von Polen als „Christus Europas“ und die aktuelle politische Identitätskonstruktion Polens, zu der eine Legitimation von Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung gehört. Polnische Romantikforschung ist deshalb auch immer politischer Widerstand, was sich exemplarisch am Beispiel Maria Janions zeige. In der anschließenden Diskussion führte Mende an Beispielen aus, wie populär und gesamtgesellschaftlich verbreitet die nationalistisch-patriotische Romantikvereinnahmung in Polen noch heute sei. Dies schließe durchaus auch eine Vertrautheit mit den historischen Quellen ein. So seien romantische Texte Nationalliteratur, Schulpflichtlektüre und könnten von vielen Bürger:innen auswendig rezitiert werden.
Jakob Heller (Halle) stellte im vierten Impulsvortrag unter dem Titel Neue Rechte und Romantik gegenwärtige politische Vereinnahmungen der Romantik in Deutschland dar. Wichtigster publizistischer Vertreter der neuen Rechten ist derzeit Götz Kubitschek (u.a. Gründer des Verlags Antaios im Jahr 2000 sowie seit 2003 Redakteur der Zeitschrift Sezession). Insgesamt hat sich die neue Rechte einer Intellektualisierung rechten Gedankenguts verschrieben und bedient sich dazu einer Vereinnahmung der Romantik (insbesondere Novalis, Eichendorff sowie die Heidelberger und späte Romantik), mit einem Fokus auf romantische Theorien des Absoluten, Unbedingten, das Denken des Primären/Primodialen, Heimatglaube und Volkstümlichkeit. Auch hier konnte in der Diskussion ergänzt werden, dass die philologische Grundlage der neuen Rechten durchaus genau sei, auf gemeinsame, intensive Textlektüre- und Diskussion werde sehr viel Wert gelegt.
Klara Wagner (Göttingen) machte mit ihrem Impulsvortrag zu C.D. Friedrich im Spiegel der DDR den Abschluss vor der gemeinsamen Plenum-Diskussion. Im Zentrum der Präsentation stand die C. D. Friedrich Retrospektive in Dresden 1974. Mit Blick auf die innen- und außenpolitischen Entwicklungen in der DDR in den frühen 1970er Jahren (1972 war das Ziel einer Anerkennung als 2. deutscher Staat erfüllt; nun begann eine Abkehr von der Erzählung einer gemeinsamen deutschen Staatskultur) erscheint eine neu verstärkte Rezeption der Romantik als durchaus politisch motiviert. Aufnahmen der Romantik wurden nun zum Medium des Strebens nach eigener nationalistischer Staatskultur und sollten die These stützen, dass in der DDR der eigentliche Erbe der humanistischen Kultur fortlebe. Zugleich ist nicht zu vergessen, dass bei vielen andersdenkenden Autor:innen der DDR Romantik natürlich auch Symbol für Hoffnung und Widerstand war.
Kommentare und Fragen in der gemeinsamen Diskussion behandelten u.a. folgende Punkte:
- Sind die hier vorgestellten und/oder andere Romantik-Vereinnahmungen inadäquat, verkürzt, aus wissenschaftlicher Perspektive schlicht falsch bzw. widerlegbar – oder geben romantische Artefakte wirklich diese Positionen her? Wird beispielsweise falsch oder verkürzend aus komplexen Kontexten zitiert – oder beziehen sich die Vereinnahmungen auf Gehalte/Texte, die politisch wirklich kontrovers oder sogar klar abzulehnen sind? Gibt es nicht offensichtlich die Tendenz, einzelne Sonderfiguren der Romantik (z.B. Novalis, z.B. CD Friedrich, z.B. H. v. Kleist) als Repräsentanz für „die“ (ganze) Romantik zu setzen?
- An der Tatsache, dass Schmitts Vorwürfe gegen die Romantik von rechts (1921) aufs Haar den Vorwürfen Georg Lukács gegen die Romantik von links (1945) gleichen, zeigt sich exemplarisch, dass ein (vermeintlicher?) Anti-Liberalismus der Romantik der Kern- oder der zentrale Ausgangspunkt der meisten politischen Romantikvereinnahmungen ist. Was viele liberale Theoretiker:innen als Stärke empfinden, empfindet die Romantik tendenziell eher als ungenügend – darin liegt vielleicht ihre politische Gefahr. Auch ist unleugbar, dass es in der Romantik wirklich modernekritische Positionen gibt. Ebenfalls unleugbar ist die historische Verbindung von Romantik und Nationalstaatbildung/Fokus auf die Entwicklung verschiedener nationaler Sprachen. Auch mögen wir heute (tendenziell) nicht das Bedürfnis nach Synthese, Halt, Religiosität, dass wir in romanischen Artefakten aber durchaus finden. Das Problem für uns ist, wie gehen wir als Forscher:innen damit um? Wie beispielsweise rezipieren wir die romantische Ausrichtung am Absoluten/Unbedingten, ohne antidemokratische politische Tendenzen zu bedienen?
- Weiterführend zum letzten Fragekomplex bzw. noch allgemeiner: Viele wissenschaftliche Darstellungen der Romantik ignorieren einfach ihre schwierigen Seiten – sie reden sozusagen einfach nicht davon. Wenn uns das aber als falsch oder ungenügend erscheint – was wäre dazu dann die richtige Alternative? Müssten wir immer explizit zu politisch kontroversen Gehalten Stellung beziehen oder wenigstens kommentierend darauf hinweisen? Gibt es eine fortlaufende Positionierungsnotwendigkeit/-bedürftigkeit bei Texten, die in der Rezeptionsgeschichte ideologisch aufgeladen wurden? Vor allem: Ist die auch in dieser Runde eingenommene Metaebene – wir stehen quasi völlig neutral über den diversen Vereinnahmungen und zeigen nur, wie Romantik immer vereinnahmt wurde, ohne uns diese selbst zum Vorwurf zu machen – nicht auch unbefriedigend? Ist die implizite Behauptung völliger Neutralität/Objektivität überhaupt (selbstkritisch gefragt) tragbar? Das Problem ist doch auch: Jeder Bezug auf Romantik ist kontingent und selektiv – das allein kann man also den Vereinnahmungen nicht vorwerfen.
Geplant ist eine Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem Thema „Giftschrank“ am 3. Netzwerkkolloquium im April 2022.
[Bericht: Rahel Villinger]