Bericht des III. Kolloquiums des DFG-Netzwerks ‚Aktuelle Perspektiven der Romantikforschung – Theorien, Methoden, Lektüren‘
8.-9. April 2022, Goethe-Universität Frankfurt
Ein Bericht von Nicole Lee, Alexander Kling, Frederike Middelhoff, Sebastian Schönbeck und Klara von Lindern
Schwerpunkt des dritten Kolloquiums des Netzwerks bildeten kulturwissenschaftliche Theorien, Methoden und interpretatorische Praktiken, die als Zugänge für die Erforschung der historischen Romantik entfaltet und diskutiert wurden. Dafür eingeladen waren einschlägige Forschende aus dem Bereich der kulturwissenschaftlichen Romantikforschung: Prof. Dr. em. Günter Oesterle (Institut für Germanistik, JLU Gießen, Prof. für Literaturwissenschaft und Kulturpoetil) ist Experte für die Literatur und Kultur der Romantik im deutschsprachigen Raum, zahlreiche Publikationen (auch nach der Emeritierung) u.a. zur Kultur romantischer Geselligkeit, zur Ästhetik der Arabeske, zur Burleske und Satire sowie zu deutsch-französischen Kulturbeziehungen um 1800. Dr. Christiane Holms (Germanistisches Institut, MLU Halle, Neuere deutsche Literatur/Kunstgeschichte; wiss. Mitarbeiterin, Germanistik) Forschung ist an der Schnittstelle von Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte angesiedelt und erhellt die Forschung mit ihrer Expertise für genderrelationale, praxeologische, materialitäts- und bildtheoretische Fragestellungen hinsichtlich der Zeit um 1800.
Neben den beiden geladenen Referent:innen stellten einzelne Netzwerkmitglieder ihre Forschungsprojekte zur Romantik vor und reflektierten ihren methodischen Zugriff und ihr Erkenntnisinteresse. Flankiert wurden die Vorträge und Plenumsdiskussionen von den mittlerweile etablierten Programmeinheiten des ‚Giftschranks der Romantikforschung‘ sowie der gemeinsamen Diskussion zu ‚Schlüsseltexten der Romantikforschung‘. Der ‚Giftschrank‘ ist als Gesprächsforum angelegt, um die über historisch problematische Konzeptionen und Ideologisierungen von Romantik nachzudenken. Dieses Treffen widmete sich der Auseinandersetzung mit der „Romantikrezeption im Dritten Reich“. sowie der gemeinsamen Diskussion zu ‚Schlüsseltexten der Romantikforschung‘. Bei den ‚Schlüsseltexten‘ standen David E. Wellberys Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800 (2014) und Jerome McGanns Rethinking Romanticism (1992) auf dem Programm.
Tag 1
8. April 2022
Vorträge von Günter Oesterle, Christiane Holm; Projektvorstellungen und Diskussionsinput von Antonia Villinger und Martina Wernli
Günter Oesterle (Gießen): Zur Kulturpoetik des Schlagschattens am Beispiel Schlehmils wundersamer Geschichte
Auf der Grundlage einer polemischen Unterscheidung der methodischen Basisoptionen von Geisteswissenschaft einerseits, Kulturwissenschaft andererseits nahm der Vortrag Adelbert von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wunderbare Geschichte (1813) in den Blick. Die Forschung, so Oesterle, hat sich unermüdlich mit der Frage beschäftigt, was der Verlust des Schattens zu bedeuten hat. Dabei wurden von geisteswissenschaftlicher Seite vor allem zwei Interpretationen ins Spiel gebracht: der Verlust des Vaterlands sowie der Verlust bürgerlicher Identität. Beide Interpretationen seien allerdings Bedeutungszuschreibungen, die sich aus einem biographischen Hintergrund speisen, den Text aber weitgehend verfehlen. Kulturwissenschaftliche Ansätze ermöglichen es hingegen, begrenzte geisteswissenschaftliche Sichtweisen aufzusprengen und vermeintlich phantastische Phänomene wie den Verlust des Schlagschattens in ihren wissens- und mediengeschichtlichen Dimensionen – etwa der zeitgenössischen Naturphilosophie/Naturwissenschaft, aber auch modischer Praktiken wie der Schattenrisszeichnung – zu verorten. Literaturwissenschaftliche Analysen, die von einer solchen methodischen Position ausgehen, wird es möglich, bisherige Interpretationen zu revidieren und Textdetails auf neue Weise zu perspektivieren. So habe man es im Text gerade nicht mit einem Teufelspakt zu tun, wie die Forschung häufig behauptet hat, sondern mit einem Fehltritt, der als solcher traditionelle Teufelspakt-Requisiten in ein Narrativ moderner Lebensführung transformiert. Kulturwissenschaftliche Ansätze folgen somit weniger den ‚großen Erzählungen‘, stattdessen fokussieren sie auf mithin unscheinbare Textdetails, die einen Zugang zu historischen Mediendispositiven, kulturellen Praktiken und poetologischen Transformationen eröffnen.
Christiane Holm (Halle-Wittenberg): Romantische Sympraxis: Bettine von Arnims performative Interventionen im literarischen Feld
Ausgangspunkt des Vortrags war ein Verständnis von Romantik als einer Praktik. Aus einer methodischen Perspektive erfordert die Verknüpfung von Praxeologie und Romantikforschung, die etwa auf Theorien von Michel de Certeau oder Andreas Reckwitz zurückgreifen kann, ein Interesse an banalen Phänomenen, alltäglichen Routinen sowie deren – mithin bewusst herbeigeführten – Störungen. Versteht man von hier aus das Romantisieren als ein performatives Geschehen, ein Tun, dann tritt neben die romantische Sympoesie, die auf ein werkförmiges Produkt ausgerichtet bleibt, eine romantische Sympraxis, die als solche die Grenzen des geschlossenen Werks sprengt und der es stattdessen um exzentrische Auftritte, ereignishafte Happings sowie deren textuelle Aufzeichnung (bzw. Inszenierung) geht. Exemplarisch veranschaulicht wurde diese romantische Sympraxis sodann anhand von Bettine von Arnims Briefromanen. Bereits die dialogische und nichtfinalistische Form der Briefkommunikation entzieht sich dem geschlossenen Werk. Zudem sei die Bettine-Figur der Briefromane als kindlicher Kobold und Verkörperung des romantischen Prinzips gestaltet. Immer wieder nutze sie die üblicherweise unreflektiert bleibenden Handlungsrahmen des Alltags für eigenwillige Inszenierungen und Gegenperformancen, mit denen bestehende Ordnungen offengelegt und zugleich verflüssigt werden. Das Romantisieren erweist sich aus dieser Perspektive nicht nur als Text- sondern auch als Sozial- und Kulturpraxis, die ihre Energien aus Verfremdungen und Störungen alltäglicher Skripte und Routinen bezieht.
Antonia Villinger (Bamberg): Dorothea Schlegels Florentin (1801) als Ausgangspunkt der Verhandlung von Autorinnenschaft (Projektvorstellung)
Im Zentrum des Projekts steht eine kritische und differenzierte Untersuchung von Dorothea Schlegels öffentlicher Wahrnehmung als Autorin und Übersetzerin, sowie ihr eigenes Selbstverständnis dieser Rollen, das in ihren Schriften zum Ausdruck kommt. Eine zentrale These ist, dass Schlegel ihr umfangreiches Netzwerk (bestehend aus Autor*innen, aber auch Verleger*innen etc.) strategisch nutzte, um einerseits selbst aktiv schriftstellerische Tätigkeiten ausüben zu können, andererseits auch ihre Kolleginnen dabei zu unterstützen. Verhandelt werden sollen dabei im Projekt auch die Spannungen zwischen ökonomisch notwendiger und kreativ motivierter bzw. inspirierter Tätigkeit sowie einhergehend damit zwischen ‚Handwerk‘ und ‚Kunst‘: Kategorien, die Dorothea Schlegel in ihren Texten immer wieder strategisch als Dichotomien gegeneinander ausspielte. Eine differenzierte Neulektüre offenbart hier bewusst vorgenommene, ironische Durchkreuzungen eines männlich codierten Autoren- und Kunstbetriebs der Zeit um 1800. Eine scheinbare Unterordnung unter solche Strukturen entpuppt sich auf den zweiten Blick als Dekonstruktion. Als für das Projekt zentrale Quellen erweisen sich neben dem Roman Florentin unter anderem auch Tagebucheinträge und vor allem Briefe, wie exemplarisch von Antonia Villinger an einer Korrespondenz Schlegels mit Friedrich Schleiermacher aufgezeigt wurde. Mit ihrem Projekt zeigt sie, dass sich Dorothea Schlegel durchaus der Qualität ihrer Arbeiten bewusst war und überaus geschickt agierte, um sich selbst als Autorin zu inszenieren und zu positionieren.
In der anschließenden Diskussion wurde Antonia Villingers Ansatz einer kritischen und differenzierten Neulektüre nachdrücklich begrüßt und angeregt, diesen nicht nur auf die Texte selbst, sondern auch auf eine genaue Betrachtung beispielsweise historischer Ökonomisierungsprozesse auszuweiten, um so enthaltenes Emanzipationspotenzial offenzulegen. Darüber hinaus kam die Frage auf, ob Florentin sich für die gewählte Fragestellung als zentraler Ausgangstext weiterhin als sinnvoll erweist, und ob die angestrebte Neulektüre möglicherweise starre Kategorisierungen und Einteilungen in Dichotomien obsolet macht.
Martina Wernli (Frankfurt): Input: Forschung zu Romantikerinnen
Im Anschluss an Antonia Villinger gab Martina Wernli einen Einblick in das Forschungsprojekt Kathaliskos. Autorinnen der Romantik. An die von Wernli 2020 organisierte Goethe-Ringvorlesung 2020 zum Thema ‚Schriftstellerinnen der Romantik‘ werden in dieser Workshopreihe, die gemeinsam mit Frederike Middelhoff organisiert ist, sukzessive Protagonistinnen der Romantik und ihr Werk beleuchtet. Derzeit ist ein Band mit den Ergebnissen der Goethe-Ringvorlesung im Metzler-Verlag in Vorbereitung. Martina Wernli zeigte ausgehend von der kritischen Untersuchung der Forschungslage zu den Romantikerinnen grundsätzliche Probleme der Romantikforschung auf – vor allem hinsichtlich des deutschsprachigen Raums. So besteht nach wie vor eine strukturelle Ungleichheit zwischen männlichen und weiblichen Protagonist:innen der Zeit um 1800, die durch die Forschung reproduziert wurde und wird. Das zeigt sich etwa in einer teils fehlenden Grundlagenerschließung des Werkes speziell von Autorinnen, deren Schriften noch immer unediert in Archiven liegen. Problematisch erweist sich hier vor allem die mangelnde Bereitschaft von Forschungsgeldern – insbesondere in der deutschen Academia, sodass bestehende Projekte häufig im englischsprachigen Ausland angesiedelt werden mussten und müssen (Beispiel: Barbara Hahn und ihre Forschung zu Rahel Levin Varnhagen).
Romantikerinnen bleiben daher nach wie vor aus dem Kanon ausgeschlossen, weil sie auch in Einführungsveranstaltungen oder Überblickswerke nicht aufgenommen werden – ein Grund dafür ist nicht zuletzt, dass Basisforschung, Transkriptionen erst noch vorgenommen werden müsste. In anderen Fällen liegen zwar Werkverzeichnisse oder kritische Editionen vor (zumeist aus den 1980er und 1990er Jahren), jedoch sind die Erstausgaben zumeist vergriffen und wurden von den Verlagen häufig nicht wieder aufgelegt. Darüber hinaus ist nach wie vor ein sprachliches, systematisch-wertendes Markieren von Geschlechtlichkeit in wissenschaftlichen Werken zu beobachten, sobald Leben und Werk der Romantikerinnen Gegenstand der Diskussion werden – beispielsweise werden Frauen allein in ihrer Rolle als Ehefrau oder Geliebte aufgeführt oder es wird ausschließlichen der Vorname (‚Dorothea‘ [Schlegel], ‚Caroline‘ [Schlegel], ‚Rahel‘ [Veit] usw.). Ausgehend davon stellte Martina Wernli die Frage ans Plenum, wie eine Positionierung des Netzwerks dazu aussehen könnte, die nicht nur auf derartige Missstände hinweist, sondern sich auch mit ganz konkreten Fragen bezogen auf ein systematisches Weiterverfahren auseinandersetzt. In der anschließenden Diskussion wurden Möglichkeiten der konsequenten Integration der Werke von Autorinnen in die Romantikforschung entwickelt. Möglich (und nötig) erscheinen in dieser Hinsicht nicht nur Ansätze, die eine ‚Mindestquote‘ von Autorinnen in den Forschungsbeiträgen involvieren, sondern auch Einzelforschungs- und Verbundanträge, die Erschließung und Edition der Texte einschlägiger Akteurinnen der Romantik befördern.
Als letzter Programmpunkt stand im Anschluss ein Besuch des Romantik-Museums auf der Agenda.
Tag 2
09. April 2022
Den Auftakt am zweiten Tag machte Cornelia Ilbrig (Hamburg/Frankfurt) mit ihrer Projektvorstellung zum Thema Adelbert von Chamisso als Lumpensammler der Entdeckungsreisen. Beobachtungssplitter und Anekdoten aus dem Randständigen als Gegenprogramm zum Kolonialismus. Dabei soll es um das Reisetagebuch sowie den Reisebericht Chamissos gehen, die er während seiner Teilnahme an der russischen Rurik-Expedition auf der Suche nach der Nord-West-Passage unter dem Kommando von Otto von Kotzebue anfertigte. Enttäuscht darüber, dass das Ziel der Reise nicht erreicht wurde, ernüchtert von den hierarchischen Strukturen an Bord sowie den spärlichen Möglichkeiten, Land und Leute auf der anderen Seite des Atlantiks studieren zu können und verärgert über den Mangel an Respekt gegenüber seiner Person und seiner Arbeit, widmete er sich in seinen Schriften dem Randständigen und Abseitigen und somit dem bislang Unbeobachteten und Unbeschriebenen. Anekdoten und Beobachtungssplitter finden ihren Weg in Chamissos Reisebericht ebenso wie die Formulierung einer Schifffahrtsästhetik und eine Kritik an dem Konzept des ‚Edlen Wilden‘. Chamissos kurzweiliger Kontakt mit ihm fremden Kulturen kompensiert seine in gewissem Sinne ‚sabotierten‘ Tätigkeiten als Naturforscher und so fokussiert er in seinem Reisebericht auf die Bedeutung von Kulturkontakt und -austausch und formuliert eine Kritik an kolonialem Raubbau sowie Missionierungspraktiken. Sein ‚Bericht‘, in dem er nicht nur die Praktiken der europäischen Kolonialisierungsbemühungen hinterfragt, sondern in dem er ebenso ein Schlaglicht wirft auf scheinbar Belangloses sowie auch vermeintlich Peinliches, dient dem Zweck, die Reputation der erfolgreichen, europäischen Forschungsreise zu konterkarieren und sie umzukodieren. Chamissos Verweigerung des systematischen Reiseberichts und der Verwertung von ‚Lumpen‘ und ‚Resten‘ statt der Fortschreibung und Glorifizierung des europäischen Pioniergeistes reflektiert die spätromantische Poetik des Außenseitertums und des Randständigen.
In der sich anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern es sich bei Chamissos scheinbarer Weigerung, einen kolonialistischen Blickwinkel einzunehmen und somit einen verklärenden Reisebericht zu formulieren, um eine aktive Entscheidung handelt, gegen die Praktiken des Kolonialismus anzuschreiben oder ob ihm die Entscheidung bereits genommen wurde, da die Expedition als Misserfolg gewertet und abgebrochen wurde. In der Dechiffrierung und Entmystifizierung des amerikanischen Naturraums als romantische Seelenlandschaft und terra nullius sowie in der antithetischen Darstellung des fiktiven ‚Edlen Wilden‘ mit der realen indigenen Bevölkerung manifestiert sich jedoch eine bewusste Ausklammerung des Eroberungsblickwinkels und eine Konzentration auf das vermeintlich Periphere oder das für die europäischen Annexionsbestrebungen peripher Bedeutsame.
Auf Ilbrigs Präsentation folgte Frederike Middelhoffs (GU Frankfurt) Projektvorstellung zum Thema Romantik und Migration. Eine Wissensgeschichte. Middelhoff plädiert dafür, Romantik und Migration zusammen zu denken, spannt sich die Epoche der Romantik doch zwischen zwei Migrationswellen auf, nämlich der Französischen Revolution und der deutschen Massenauswanderung nach Amerika im langen 19. Jahrhundert. Während Wanderungsvorgänge als Arbeitsmigration von Künstlern und Künstlerinnen sowie die Gesellenwanderung bereits differenziert wissenschaftlich diskutiert wurden, wird die Zwangsmigration, also Flucht und Vertreibung sowie das Leben und Schreiben im Exil, in der Germanistik bislang marginal behandelt.
Ein typologisierender Ansatz der historischen Migrationsforschung ermöglicht es, die Wanderungsvorgänge in romantischen Texten als Migrationsformen zu diskutieren und historisch zu kontextualisieren. Des Weiteren kann aus einem mikrologischen Blickwinkel nach Form-, Figurations-, Imaginations- und Affektmodellen der literarischen Darstellungen von Migration, Migranten und Migrantinnen in der Romantik gefragt werden. Im Zuge dessen sind autofiktionale oder autobiographische Darstellungen von Flüchtlingen und Vertriebenen von Interesse, welche die Erfahrungen der Emigration sowohl rekonstruieren als auch ästhetisieren. Zudem wird eine wissenspoetologische Erweiterung des Textkorpus angestrebt, der eine Annäherung an die Konstitution, Distribution und Transformation eines Migrationswissens um 1800 ermöglicht. Im Fokus stehen hierbei Texte, die sich mit den Ursachen und Folgen der Aus- und Wiedereinwanderung von Menschen, Tieren, Stoffen, Pflanzen und Krankheiten in der Literatur um 1800 befassen.
Als Beispiele wurden Karoline von Günderrodes Hildgund (1805) sowie das von ihr verfasste Drama Mahomed, der Prophet von Mekka (1805) herangezogen. Auffallend ist, dass im Zentrum der beiden Texte jeweils sowohl die Ursachen als auch die Konsequenzen des Migrationsprozesses der beteiligten Akteurinnen und Akteure stehen. Das in den Werken aufgegriffene Thema der politischen Verbannung, so Middelhoff, reflektiert die Diskussion über die Legitimität des Aufenthaltes französischer Geflüchteter im Zuge der französischen Revolution nach Deutschland. Die Exilierten in Günderrodes Texten werden als zentrale Figuren positioniert. In beiden Werken werden patriarchale Gewalt und die Wahrung und Etablierung von individueller Autonomie im Moment kriegerischer Konflikte verhandelt. In Hildgund werden Verbannung, Unfreiheit und Exil thematisiert. So manifestiert sich auf inhaltlicher Ebene in der Verwertung eines mittelhochdeutschen Stoffes ein hochaktueller Themenkomplex angesichts der stattfindenden Koalitionskriege gegen das Napoleonische Frankreich. Zudem zeige das Drama auf, wie patriarchalische Strukturen sich insbesondere für Migrantinnen zum Autonomieproblem entwickeln können.
Auch das Drama Mahomed, der Prophet von Mekka rekurriert unter anderem auf den durch die Französische Revolution und ihre Folgen ausgelösten Flüchtlingsstrom gen Deutschland. In der Thematisierung von Mahomeds Vertreibung aus Mekka und seiner späteren Rückkehr als Bezwinger und Eroberer eben jener Stadt manifestiert sich die Frage nach dem Status der Geflüchteten und deren Transformation zu Verbannten, Staaten- und Heimatlosen. Mahomeds Verbannung und der damit einhergehende drohende Identitätsverlust erinnert an die Praktiken der Französischen Revolutionäre, die den Besitz der konterrevolutionären Emigrierten konfiszierten und die Rückkehr dieser personae non gratae nach Frankreich aus dem Exil unter die Todesstrafe stellten. So wirft Günderrodes Drama die Frage auf, wie sozial eingebundene Menschen durch Zwangsmigration diskursiv ausgegrenzt werden und wie Migration als politisches Kalkül und sozialpolitische Strategie instrumentalisiert werden kann.
In der sich anschließenden Diskussion wurde unter anderem nach den Gründen für die Abstraktionsleistung gefragt und warum Günderrode sich zeitlich weit zurückreichender mythologischer Stoffe bedient, um aktuelle politische und gesellschaftliche Themenkomplexe zu verhandeln. Dabei wurde ebenso nach der Funktion der aus einer vermeintlich exotistisch-orientalistischen Perspektive für eine deutsche Leserschaft er- und beschriebenen Welten gefragt. Ergänzend wurde im Kontext von Migration und Flucht auf den Aspekt der Masse verwiesen, auf den die beiden ausgewählten Werken kein Schlaglicht werfen, da es sich in beiden Fällen mehr oder minder um eine Elitenmigration handelt. Beide Dramen Günderrodes behandeln Migration als sozialpolitische Praktik. Hervorgehoben werden sollte deshalb, dass es sich mehr um eine machtpolitische Strategie und weniger um eine Strategie des Überlebens im Sinne einer Wirtschaftsflucht handelt. Ergänzend wurde benannt, dass Günderrodes Texte weniger von romantischen Topoi wie Sehnsucht, Kindheit und Heimat durchzogen sind, sondern sich entgegen der romantischen Praktik des Ästhetisierens stattdessen dem Taktieren und Handeln verschreiben.
Der nächste Programmpunkt sah die gemeinsame Lektüre und Diskussion zweier Schlüsseltexte der Romantikforschung vor, zum einen David E. Wellberys Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800 (2014) und zum anderen Jerome McGanns Rethinking Romanticism (1992). Beide Texte fragen nach einem gemeinsamen Wesen der Romantik und bemühen sich um synthetisierende Perspektiven (wenngleich McGann insbesondere die Heterogenität und Ambivalenz der Romantik betont). Gleichzeitig manifestiert sich in ihren jeweiligen Argumentationsversuchen die Komplexität einer theoretischen Annäherung und Eingrenzung.
Im Bestreben um eine definitorische Annäherung an ‚die Romantik‘ beschreibt Wellbery die Ablösung des eidetischen durch den endogenen Formbegriff am Beispiel von Goethes Formdenken als „semantische Verschiebung“, die Teil einer „fundamentalen Umschichtung der alteuropäischen Begriffstektonik“ um 1800 sei und in ‚der Romantik‘ Ausdruck findet. Wellbery unterscheidet das endogene Formdenken vom eidetischen Formkonzept Platons sowie dem konstruktivistischen Formkonzept de Saussures. Während sowohl das eidetische als auch das konstruktivistische Formkonzept auf Grenzziehung ausgerichtet ist, ist das endogene Formverständnis prozessual bestimmt, ist ein „Sich-Herausbilden“ und richtet sich nach dem Muster organischen Wachstums als Bewegung innerer Selbstentfaltung. Zentral für Goethes morphologisches Konzept ist, in der Betrachtung der vielfältigen Naturformen Regelmäßigkeiten zu erkennen, die mit ihren “Bildungs- und Umbildungsprozessen” eine übergeordnete Einheit bilden, nämlich: die Natur. Die Natur sei als ein dynamisches Gestaltungskontinuum zu verstehen, in dem jede Form über Zwischenformen gliederartig miteinander verbunden ist. Die Gestaltung des Lebens durch die Natur und die Gestaltung des Kunstwerks durch den Künstler korrespondieren miteinander. Für Goethe gilt der Organismus als Organisationsform der Natur und wird ebenso in der Kunst zur Metapher für das Verhältnis von Teil und Ganzem. Das Kunstwerk wird als organisch strukturierte Ganzheit verstanden, als Einheit des Mannigfaltigen, in sich geschlossen und vollendet. Der Gedanke der formalen Geschlossenheit, wie ihn die deutschen Romantiker und Romantikerinnen begreifen, ist untrennbar mit der Idee der umfassenden Einheit der Natur verbunden.
McGann nähert sich ‚der Romantik‘ über die Periodisierung als geschichtswissenschaftliche Methode. Er behauptet, dass es innerhalb der romantischen Strömungen tiefgreifende kulturelle Grabenkämpfe gab und bezeichnet die interne Auseinandersetzung der Romantiker und Romantikerinnen um einen Definitionsversuch als „Bürgerkriege der Romantik“. Weiter konstatiert McGann, dass ein heftiges Beharren auf und stetes Betonen der Unterschiede innerhalb ‚der Romantik‘ lediglich zu einer Atomisierung, einem Sezieren, führt und somit jegliche Hoffnung auf eine Definition und ein Erkennen von Gemeinsamkeiten getilgt wird. Nimmt man sich des Versuchs an, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eine Periodisierung ‚der Romantik‘ vorzunehmen und die Epoche historisch zu denken, so besteht die Zielformulierung nicht darin, sie als Ganzes zu definieren, sondern ihre Dynamiken aufzuzeigen. McGann argumentiert für eine Hinwendung zu und eine Hervorhebung der Ambivalenzen innerhalb der sowie für ein polyphones Verständnis von Romantik. Dabei rekurriert McGann auf Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeiten, wenn er ‚die Romantik‘ als „eine sich entwickelnde Szene mit dynamischen Spannungen und Beziehungen“ beschreibt.
Daran schloss sich die Vorstellung der geplanten Spezialausgabe des European Romantic Review sowie ein Aufruf zur Partizipation von Tim Sommer an. Den Abschluss des Vormittags bildete eine Diskussion über eine potentielle Positionierung des Netzwerks zum Krieg in der Ukraine. Geeinigt wurde sich darauf, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die einen Entwurf entwickeln soll, wie innerhalb eines wissenschaftlichen Formates ein Schlaglicht auf die ukrainische Romantik und ukrainische Forschende geworfen werden kann.
Der Nachmittag hob mit der Sektion ‚Giftschrank der Romantikforschung‘ an. Mit diesem Format hat sich das Netzwerk bereits im Rahmen des II. Kolloquiums punktuell mit der in sich äußerst heterogenen Rezeptionsgeschichte romantischer Texte auseinandergesetzt, insbesondere mit jenen Lektüren, die stark von einer ideologischen Agenda geprägt sind. Im Rahmen des III. Kolloquiums wurde die begonnene Arbeit durch zwei Impulsvorträge zur Romantik-Rezeption im Dritten Reich und eine sich anschließende ausführliche Diskussion fortgesetzt. Mit der Sektion ‚Giftschrank‘ stellt sich das Netzwerk die Frage, wie – mit welchen Theorien und Methoden – die problematische Rezeptionsgeschichte der Romantik jenseits ihres wissenschaftsgeschichtlichen Eigenwerts zu bearbeiten wäre. Die Vorträge und Diskussionen stellen sich dem Problem, inwiefern eine Reflektion und Beschäftigung mit ideologisch verstellten literaturwissenschaftlichen Deutungen für die aktuelle Romantikforschung wertvolle und nötige Impulse liefern kann.
Der erste Impulsvortrag von Tim Sommer (Universität Heidelberg) lieferte Einsichten in die literaturwissenschaftliche Bearbeitung der britischen Romantik im Zeitraum 1933 bis 1945 in Deutschland. Der Vortrag lieferte nacheinander einführende Bemerkungen zum allgemeinen historischen Kontext, widmete sich daraufhin genauer der Forschung zur britischen Romantik und beleuchtete schließlich einige Beispiele aus Deutungen der britischen Romantik, die durch die Ideologie der Nationalsozialisten geprägt sind. Im ersten Teil des Vortrags unterstrich Tim Sommer, dass sich in den Deutungen die Absicht der Nobilitierung einer neuen Forscher- und Lehrergeneration verband. Voraussetzungen der institutionellen Bemühungen sei vor allem die Frage nach der politisch-ideologischen Zugehörigkeit einzelner Forscher (Galinsky, Schücking) und einer an dieser Frage ausgerichteten Berufungspolitik an deutschen Universitäten. Auffällig sei, dass der Fokus der Romantikforschung weitestgehend auf der „Hochromantik“ mit Fokus auf ein sog. „Volkstums-Erlebnis“ und einen „völkischen Sinn“ der Texte lag (vgl. Klausnitzer: Die blaue Blume unterm Hakenkreuz, S. 526f.). Im Rahmen dessen nehmen andere Europäischen Romantiken jenseits des deutschen Sprachraums eine Sonderstellung ein, darunter auch die britische Romantik. Der Vortrag von Tim Sommer identifizierte drei „anglistische Selbstlegitimierungsstrategien“: der Fokus auf die Deutschlandrezeption von britischen Autor:innen (1), die wesenhafte Verwandtschaft britischer und deutscher Kultur, Literatur und Mentalität (2) und (ab 1939) eine Kritik am britischen Geist (3). Diesen Strategien im Umgang mit romantischen Texten ging Sommer im Folgenden mit Blick auf zwei Beispiele nach: Zum einen Wolfgang Kellers „Carlyle und der Führergedanke“ (1934) und zum anderen Paul Meißners „England und Europa in geistespolitischer Beleuchtung“ (1941). Gemeinsam ist beiden Texten die unverblümte ideologische Vereinnahmung der romantischen Texte über die vereinnahmende Interpretation philosophischer und politischer Positionen (oft auch in Relation zu Deutschland und zur deutschsprachigen Romantik), die Konstruktion eines starken Gegenwartsbezugs bis hin zur Tagesaktualität und ein starker didaktischer Impetus.
Der zweite Impulsvortrag von Raphael Stübe (GU Frankfurt) ging ebenfalls den Verwicklungen der Romantikforschung in die nationalsozialistische Ideologie nach, allerdings nicht mit Fokus auf die anglistische, sondern die germanistische Forschung. Im Fokus des Interesses stand anhand ein einzelner, wenngleich besonders paradigmatischer Fall: der Text „Umwertung der deutschen Romantik“ aus dem Jahr 1933, geschrieben vom NSDAP- und SA-Mitglied Walther Linden. Der Vortrag begann mit einer Zuordnung von Lindens Text zu einer von zwei konkurrierenden Strömungen innerhalb der NS-Germanistik: Einerseits werde eine sich an Carl Schmitts Position anschließende Romantikkritik vertreten, andererseits eine affirmative Vorstellung der Romantik vorgebracht. Linden stehe dabei, so Stübe, auf der Seite derer, die ein affirmatives Bild von der Romantik zeichnen. Durch Walther Linden Arbeiten zur Romantik wurde u.a. der Ausdruck „Hochromantik“ geprägt. Lindens Lesart romantischer Texte dieser Phase richtet sich gegen den moderneaffinen Subjektivismus der Romantik und favorisiert stattdessen das totalitäre und nationale Denken einiger Romantiker. Mit dieser Präferenz verbindet sich zugleich eine Abwertung der von frühromantischen Autoren wie Fredrich Schlegel und eine Aufwertung von Autoren wie Joseph Görres, Adam Müller oder Achim von Arnim. Abschließend unterstrich Raphael Stübe, dass dem Text von Linden ein stark dezisionistischer Zug eigen sei, der sich darin äußere, dass die Beobachtungen einer Entscheidung folgen, nicht aber aus dem Material abgeleitet würden.
Fragen und Diskussionspunkte gingen an den Impuls anschließend u.a. von der frappierenden Beobachtung aus, dass auch gegenwärtig in Beschreibungen der Phasen der Romantik als Epoche noch häufig von ‚Hochromantik‘ gesprochen werde, ohne eine nötige Reflexion der problematischen Prägung des Begriffs. Hier sei auch im Rahmen der Netzwerkarbeit und in der akademischen Lehre eine besondere Sensibilität gefragt. Eine zentrale Frage bildete darüber hinaus die Rolle der Religiosität und Konfessionalität im Rahmen der ideologischen Vereinnahmungen der Romantik. Diskutiert wurde dabei, inwiefern die Suche nach einer passenden Form der Religiosität womöglich zu einer geistesgeschichtlichen Haltung oder Grundeinstellung führe, die nationalistisch-konfessionalistische Vereinnahmungen der Romantik begünstigen. Deutlich wurde die Vereinnahmung, so wurde in der Diskussion noch einmal betont, bei Linden nicht nur in der Textauswahl, sondern auch im Stil, in semantischen Verschiebungen, im Pathos (bspw. „atomisierter Individualismus“), der allerdings typisch seit den 1890er Jahren ist.
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Sehen Sie hier das Programm des III. Netzwerk-Kolloquiums vom 8. und 9. April 2022.